Von Deborah Darnhofer
Innsbruck – In den späten Stunden, wenn Nachtschwärmer und Partyverrückte die Bogenmeile in Innsbruck bevölkern und zu ihrem alkoholgetränkten Revier machen, ist es kaum wahrnehmbar: das Rattern der Züge oberhalb der vielen Bögen. Die Bässe der Musikanlagen übertönen den Verkehrslärm. Am Tag hingegen ist in der Ing.-Etzel-Straße keine laute Musik mehr zu hören, dafür die vorbeisausende Straßenbahn, Autos – und natürlich die ratternden Züge.
„Manche Kunden werden davon überrascht, halten kurz inne oder gehen bei schweren Lastzügen sogar in Deckung“, erzählt Hansjörg Kathrein. Der 58-jährige ehemalige Postler hat sich im ersten Bogen ein Töpfergeschäft eingerichtet.
Wenn es ruckelt, klirren manche Tongefäße, doch zu Bruch geht nichts. Kathrein ist seit 1993 „treuer Mieter“, wie er selbst sagt. Im hinteren Bereich hat er seine Werkstatt, im vorderen verkauft er seine tönernen Kunstwerke. Die Erschütterungen durch die Züge seien minimal und würden Kathrein in seiner Arbeit nicht beeinträchtigen. Auch der Verkehrslärm nicht. „Man darf sich nur nicht darauf konzentrieren.“ Sogar Ruhe ist in den Bögen möglich. Sein Reich empfindet der Töpfermeister in der sonst dröhnenden Stadt nämlich als Oase.
Und die Hinterlassenschaften der Nachtschwärmer? „Es hält sich in Grenzen. In der Früh muss ich manchmal mit dem Putzkübel oder mit dem Spritzschlauch gehen. Doch das nehme ich in Kauf. Das ist in jeder Stadt so.“ In aller Früh reinigt der Straßendienst den Gehsteig ohnehin. Einige wenige Plastikbecher, Zigarettenstummel, Dosen und einzelne Flaschen erinnern noch an die Feierfreudigen.
Die sind in der Geschichte der Bögen ein junges Phänomen. Eine Ausgehmeile war das 710 Meter lange Viadukt mit 168 Bögen und 10 Durchfahrten zu Beginn, in den 1860er-Jahren, nicht. Vor allem Handwerker und Händler (u. a. Tischler, Holz- und Kohlenhändler, Schlosser, Huf- und Wagenschmied, Schuhmacher, Strumpfstricker) fanden sich dort, weiß Joachim Bürgschwentner vom Innsbrucker Stadtarchiv.
„Die Viaduktbögen sind, wie der Name sagt, Teil des Eisenbahnviadukts. Mit dem Bau der damaligen k. k. Nordtiroler Staatsbahn von Kufstein nach Innsbruck wurde 1853 begonnen, 1858 wurde sie eröffnet“, schildert Archivar Bürgschwentner. „Ab 1854 erfolgten Grundaushebungen und Pfeilerbauten; im Juli 1856 waren die letzten sechs Bögen des Viadukts fertiggestellt.“
Wenige Jahre nach dem Bau wurden die 60 bis 90 m² großen Viaduktbögen als billige Wohnungen genützt. „Man kann sich vorstellen, dass die Bedingungen alles andere als ideal waren, z. B. große Feuchtigkeit. So verwundert es nicht, dass die Zahl der bewohnten Bögen im 20. Jahrhundert abnahm.“ Wohnende gibt es dort seit den 1930er-Jahren nicht mehr.
Sind die Bögen in ihrer Vergangenheit vielfältig genützt worden, so werden sie es auch heute. Doch allgemein gelten sie als Innsbrucks Ausgehtreffpunkt schlechthin. Mit teils kriminellen Folgen.
2007 installierte die Stadtpolizei zwei Kameras, um das Partygeschehen besser zu kontrollieren. Pro Quartal gebe es bis zu 35 Anzeigen, sagt Reinhard Moser, stellvertretender Stadtpolizeikommandant. „Derzeit ist es relativ ruhig. Es passiert immer wieder etwas, das muss man nicht verleugnen. Doch es gab schon schlimmere Zeiten, vor allem vor der Videoüberwachung.“ Am Wochenende ist ein eigener Streifendienst für die Bogenmeile abgestellt.
Die bestimmende Mehrheit machen die Bars und Nachtlokale aber keineswegs aus. Derzeit werden 29 Bögen gastronomisch genützt, 50 beherbergen Gewerbebetriebe und 37 Kfz-Werkstätten. Der Rest werde von Vereinen, privat, für Sozialprojekte oder Lager verwendet. Sieben sind derzeit leerstehend bzw. wechseln den Mieter, erklärt ÖBB-Sprecher Christoph Gasser-Mair. Den Bundesbahnen gehört das Viadukt. Die Monatsmiete pro Bogen liegt bei 600 Euro aufwärts. Keiner gleicht dem anderen „Die Bögen haben zwei Gesichter. Das ruhigere am Tag nehmen viele nicht wahr“, meint Kathrein, ehe er sich wieder an seine Töpferscheibe setzt.
Ein paar Schritte weiter ist Stillsitzen absolut nicht gefragt. Denn dort hat mit dem „Street Motion Studio“ von Kathrin Eder und Tobias Hanny vor zwei Monaten ein Tanzstudio eröffnet. Bis zu 400 Mitglieder von zweieinhalb bis 70 Jahren kommen hierher, um sich in vier zusammengeschlossenen Bögen zu bewegen und teils spektakulär zu verbiegen. Auch eine Verteidigungsschule ist dort untergebracht. „Wir sind zufällig auf die freien Bögen gestoßen und jetzt sehr glücklich. Anfangs mussten wir schon überlegen. Einerseits wegen dem finanziellen Aufwand, andererseits wegen dem Ruf“, erklärt Eder. Ein paar wenige Eltern der tanzenden Kinder waren zu Beginn skeptisch. Die Befürchtungen haben sich aber gelegt. Eine Mutter meint, je mehr Leben untertags in der Bogenmeile herrsche, desto ungefährlicher werde sie. Und Probleme habe es bisher keine gegeben, versichern die Tanzstudio-Betreiber. „Mit unserer urbanen Tanzkultur passen wir zu den Bögen. Abends, wenn wir trainieren, schauen manchmal Partygänger durch die Fenster und applaudieren“, berichtet Hanny. Auf seine Schüler ist er stolz, auch ein wenig auf die selbst herausgeputzte alte Steinmauer. Hanny schätzt das Flair der 200 Jahre alten Gemäuer, so wie zwei weitere, neue Bogenmieter. Auf dem Weg dorthin begegnet man Altbekanntem. Es schlägt einem intensiver Zigarettengestank und Alkoholdunst entgegen. Ein „Nachtbogen“ wird bei verhältnismäßig leiser Musik gerade auf Vordermann gebracht. Eine Putzparty quasi.
Gemütlicher geht es bei Julian Schöpf und Gerhard Farbmacher zu – und es riecht besser: nach frisch geröstetem Kaffee. Die beiden Bohnenexperten haben in Eigenregie drei Bögen umgebaut und vor einem halben Jahr das Cafe Brennpunkt, eine Kaffeerösterei und eine Barista-Akademie, eröffnet.
Damit wollen sie sich in die Handwerkstradition der Bögen einordnen, nicht in die wilde Partyszene. „Bei uns ist noch nie was vorgefallen. Wir halten uns auch aus dem Nachtgeschäft heraus und haben bewusst nur bis 22 Uhr geöffnet“, erklärt Schöpf. Für die Saggener sei das Cafe ein ruhiger Kontrapunkt zum lauten Nachtleben. Demnächst soll es einen Gastgarten bekommen.
In der Bogenmeile tut sich gerade viel. Schöpf und Farbmacher können sich noch größere Buntheit vorstellen. „Modegeschäfte würden hier auch gut reinpassen.“ Gerade weil im Zuge der Errichtung der S-Bahn-Haltestelle Messe−Saggen die ÖBB beginnen wollen, „Geschäftslokale mit einer Basisausstattung zu errichten und bereitzustellen“, erklärt ihr Sprecher. Außerdem hat der Stadtsenat beschlossen, Parkplätze zu streichen und eine neue Beleuchtung zu installieren. Damit sollen die Bögen in einem anderen, helleren Licht erstrahlen. Viele Betriebe beleuchten die Bogenmeile untertags ohnehin anders.
Im Brennpunkt gibt es Kaffee, der vor Ort selbst geröstet wird.
Das "Street Motion Studio" bringt Hip-Hop und Jazz-Tanz in die Bögen.
Ein Kuriosum und einzigartig in Innsbruck: Häuser auf beiden Seiten der Bögen tragen die Adresse Ing.-Etzel-Straße. Die Bögen sind eigens nummeriert.
Die erste Adresse: Im Viaduktbogen 1 töpfert Hansjörg Kathrein.
Graffitis, wie jenes von HNRX, schmücken die Bögen.
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