Türkei: „Erdogans Feindes-Front wird immer länger“

Istanbul (APA) - Murat Belge gehört zu den bekanntesten Intellektuellen und Menschenrechtlern der Türkei. Der 72-Jährige wird sowohl von tür...

Istanbul (APA) - Murat Belge gehört zu den bekanntesten Intellektuellen und Menschenrechtlern der Türkei. Der 72-Jährige wird sowohl von türkischen als auch ausländischen Medien als „die graue Eminenz unter den liberalen Stimmen der Türkei“ bezeichnet.

Der prominente Publizist ist Kolumnist der linksliberalen Tageszeitung „Taraf“, und unterrichtet als Literatur-Professor an der privaten Bilgi-Universität in Istanbul. Während des Interviews in seinem Büro kommen immer wieder Studenten herein, und fragen Belge um Rat. Zwischen Büchern von Orhan Pamuk und Fjodor Dostowjewski nimmt er sich die Zeit, seinen Studenten zuzuhören.

APA: Herr Belge, alle Umfragen deuten darauf hin, dass die AKP bei den Parlamentswahlen am 7. Juni Stimmen verlieren wird. Bei manchen Umfragen ist sogar von einem Stimmenverlust von bis zu zehn Prozent die Rede. Wie schätzen Sie die Situation ein?

Murat Belge: Für mich ist das noch viel zu wenig, meinetwegen kann die Partei noch viel mehr verlieren, oder gleich ganz verschwinden. Dies wird leider nicht eintreten, aber ich halte den Stimmenverlust tatsächlich für sehr realistisch. Die Türken sehnen sich langsam nach einem Wechsel.

APA: Sollten sich die Umfragen bewahrheiten, dann könnte die AKP am 7. Juni vielleicht sogar nur 38 Prozent der Wähler von sich überzeugen- bei den letzten Parlamentswahlen 2011 hatte die AKP noch 49 Prozent geholt. Wie ist dieser Vertrauensverlust zu erklären?

Murat Belge: Schon der gigantische Korruptionsskandal Ende 2013 hat sehr viele Türken aufgeschreckt. Die Menschen erleben einen immer autokratischer werdenden Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdogan, der mit dem Koran in der Hand durch das Land zieht, und in einem Palast mit mehr als 1.000 Zimmern wohnt. Lange Zeit galt auch für die AKP der türkische Spruch „Sie sind zwar korrupt, aber immerhin arbeiten sie auch!“ Aber auch das gilt nicht mehr. So sehen die Türken etwa, dass zwar landesweit wie verrückt gebaut wird, das Geld aber bei den Günstlingen der AKP-Regierung landet. Außerdem macht es den Menschen auch Angst, dass Erdogan überall neue Feinde wittert, jetzt hat er es ja auf die „New York Times“ abgesehen. Es gibt niemanden mehr, mit dem Erdogan nicht auf Kriegsfuß steht. Erdogans Feindes-Front wird immer länger.

APA: Bei den Parlamentswahlen könnte es erstmals sein, dass eine mehrheitlich von Kurden unterstützte Partei - nämlich die HDP - die Zehn-Prozent-Hürde überwinden und damit den Sprung ins Parlament schaffen könnte. Wie ist die Popularität dieser Partei, die erst 2012 gegründet wurde, zu erklären?

Murat Belge: Die Stärke der AKP ist auch mit der Schwäche der Opposition zu erklären. Seit Jahren schon gelingt es weder der CHP noch der MHP, ein vernünftiges Parteiprogramm auf die Beine zu stellen. Die HDP hat mit ihrem Co-Vorsitzenden Selahattin Demirtas eine charismatische Führungsperson aufgebaut. Demirtas bringt keine politischen Altlasten mit, er ist ein sehr guter Rhetoriker. Außerdem ist er glaubwürdiger als CHP-Oppositionsführer Kemal Kilicaroglu und MHP-Chef Devlet Bahceli, die keine ordentliche Alternative zu der AKP präsentieren können. Deswegen werde ich meine Stimme auch der HDP geben.

APA: Sollte die AKP bei den Wahlen nun doch eine Zweidrittelmehrheit holen, dann wird Erdogan ein Präsidialsystem einführen. Was bedeutet das für die Türkei?

Murat Belge: Demokratische Grundrechte wie die Meinungs-, Demonstrations- und Pressefreiheit werden in der Türkei dann zunehmend unterdrückt. Die Türkei ist eine defekte Demokratie, und unter Erdogan ist keine Verbesserung zu erwarten.

APA: Sie waren über Jahre hinweg ein Verteidiger der AKP, sagten sogar einst: „Unter den bestehenden Parteien sehe ich keine, die der zivilen Demokratie näher stünde als die AKP.“ Seit einiger Zeit nun gehören Sie zu den schärfsten Kritikern der AKP und des Präsidenten Erdogan. Woher der Meinungswechsel?

Murat Belge: Die AKP hat in den ersten Jahren eine Reform nach der anderen durchgesetzt, und auch die Wirtschaft angekurbelt. Den Türken ging es besser, plötzlich stieg das Durchschnittseinkommen. Wir alle waren voller Hoffnung, dass Erdogan einen Rechtsstaat einführen würde. Doch während der Gezi-Proteste hat Erdogan sein wahres Gesicht gezeigt. Er hat seine demokratischen Maskerade fallen lassen, und seine Polizei auf die Demonstranten schießen lassen. Das war der Wendepunkt für mich.

APA: Haben Sie keine Angst, dass ihre Kritik unangenehme Konsequenzen haben könnte?

Murat Belge: Ich bin schon alt, was soll mir schon noch passieren? Wenn ich meinen Job verlieren sollte, dann würde ich mir halt einen neuen suchen.

(Das Gespräch führte Cigdem Akyol/APA)