Einmal Hölle und zurück
Bewerbe über 100 und mehr Kilometer in Wüste, Fels oder Eis sind heute der Inbegriff von Extremläufen: Was treibt Menschen dazu, sich wie im Pitztal oder am Glockner bis zum Letzten zu quälen? Wo beginnt die Sucht?
Von Roman Stelzl
Innsbruck –Zwischen all den Extremläufen, der Sucht nach mehr, länger, höher, klingt es fast schon zynisch, dass die Geburtsstunde des Langstreckenlaufs mit dem Ende beginnt. Nach einem rund 42 Kilometer langen Lauf von Marathon nach Athen berichtet ein griechischer Bote mit letzter Kraft vom Sieg gegen die Perser, fällt erschöpft zu Boden und stirbt.
Heute, etwa 2500 Jahre danach, ist der Marathon immer noch das Sinnbild des Laufsports. Doch seine Nachfolger heißen jetzt Ultraläufe – und die haben dem klassischen Marathon längst den Rang abgelaufen. Zumindest für die immer stärker wachsende Gruppe auf der Jagd nach Extremen.
An der Spitze der Hitliste stehen mehrtägige Bewerbe durch die Wüste (Marathon des Sables/250 Kilometer), den Dschungel (Brasilien/254 km) oder durch das Eis am Nordpol. Daneben schießen Eintagesrennen wie Pilze aus dem Boden. Auch in Tirol: Der Pitztal Gletscher-Trailrun startete heute (3.30 Uhr) in seine dritte Auflage, die Athleten haben für die 100 Kilometer und 6800 Höhenmeter 27 Stunden Zeit. Beim einzigen härteren Bewerb in Österreich, dem Glockner-Trail, machten sich die Athleten gestern Abend auf die 110 Kilometer lange Strecke (7000 Höhenmeter). Die ersten Finisher werden heute um acht Uhr morgens in Kaprun erwartet – nach 14 Stunden mit Dunkelheit, Regen, Kälte. Um am Ende einer qualvollen Nacht erschöpft auf die Knie zu fallen.
Die häufigste Frage an solche Athleten liegt auf der Hand: Wieso macht man das? „Es geht darum, Grenzen zu erweitern. Ich will aus der Komfortzone heraus. Ich will wissen, was mein Körper kann“, sagt Philipp Brugger. Der 23-jährige Sistranser ist einer der Starter beim Glockner-Ultratrail, er läuft in eineinhalb Stunden über 2000 Höhenmeter auf den Habicht in den Stubaier Alpen – Wanderer machen das als Zweitagestour. Seine Leistung präsentiert er in sozialen Netzwerken. Brugger: „Solche Strecken zu laufen, ist ein Lernprozess. Man muss sich ablenken, muss die Natur und alles rundherum genießen. Am besten kann ich das, wenn ich alleine am Berg bin.“
Denselben Trick versucht Josef Schmied. Der 55-jährige Tiroler schleppt sich seit Jahren beim Marathon des Sables eine Woche lang und 250 km lang durch die Sahara. Dieses Mal blieben vier Zehennägel auf der Strecke. „Man muss an andere Dinge denken. Ich laufe gedanklich in Etappen von einem Tiroler Ort zum nächsten“, erklärt Schmied, der heuer seine Altersklasse gewann. Und er ergänzt selbstkritisch: „Ich weiß, dass das, was ich mache, nicht gesund ist. Es geht darum, Grenzen auszuloten. Aber es ist auch eine Art Sucht.“
Ist es wirklich eine Sucht, die antreibt? Die Meinungen der Sportpsychologen sind geteilt. „Es gleicht einer Sucht“, erklärt der Innsbrucker Markus Aufderklamm, der im Leistungszentrum Südstadt arbeitet und selbst Marathonläufer war. „Irgendwann wird die Qual zum Genuss. Man definiert sich nur noch über das Laufen, vernachlässigt Freunde, Familie, seine Beziehungen. Und so nach sechs Jahren warten die ersten Operationen.“
Anders sieht es Sportpsychologe Christopher Willis, der seit 20 Jahren Extremsportler betreut. „Studien zeigen, dass ein bis drei Prozent sportsuchtgefährdet sind.“ Für ihn ist es vielmehr ein natürlicher Reiz für den Menschen, Grenzen auszuloten: „Extremsportler sind in der Regel sehr gewissenhafte und zielorientierte Personen.“
Schlussendlich bleibt allen, vom Marathon bis in die Wüste, die Eigenverantwortung. Und auch die birgt Gefahren, wie Philipp Brugger ergänzt: „Bei den Ultraläufen gibt es Listen, was die Leute mitnehmen müssen. Das sollte es nicht geben. Die Leute müssen mitdenken und wissen, was sie tun – anstatt sich nur blind auf andere zu verlassen.“
Ein halber Tag, 15.000 Kalorien
Der Großglockner Ultratrail, der gestern um 18 Uhr gestartet wurde, gibt den Athleten für 110 Kilometer 30 Stunden bis zum Zielschluss, beim Pitztal Glacier Trail, heute um 3.30 Uhr gestartet, dürfen auf 100 km fast 28 Stunden verstreichen. Die besten Athleten brauchen bei beiden Läufen etwa 13 und 14 Stunden — eine Extrembelastung für den Körper.
„Ein Athlet mit 70 Kilogramm benötigt für die Strecke von 110 Kilometern etwa 15.000 Kalorien. Das schafft man nur, wenn man regelmäßig Energie zuführt“, rechnet Christian Pegger für den Nachtlauf rund um den Glockner vor. Für den Sportmediziner aus Innsbruck bieten die ausgezehrten Körper der Athleten die besten Voraussetzungen: „Jedes Gramm Fett, das man hinaufschleppt, ist hinderlich. Unterhalb von 2000 Metern ist die Belastung auf der Strecke immer gleich, aber oberhalb dieser Grenze kommt mit der Höhe eine Belastung dazu.“
Klar ist, dass der Gesundheitsfaktor mit der Dauer verschwindet und sich ins Gegenteil verkehrt. Pegger: „Bei gesunder Belastung spricht man von sechs Stunden Sport in der Woche. Bei Ultraläufen wird das klar überschritten. Am meisten belastet ist der Bewegungsapparat mit Hüfte, Achillessehne und den Gelenken.“
Für Sportpsychologe und Ex-Marathonläufer Markus Aufderklamm wird dabei eine ganz klare Grenze überschritten. „Es gibt Studien, die zeigen: Nach einem Marathon fühlt sich der Körper wie bei einer schweren Krankheit. Das Immunsystem ist geschwächt, schon ein leichter Windzug kann zur Erkältung führen. Bei Ultraläufern ist das noch extremer“, erklärt der Innsbrucker.
Zudem gebe es nicht wenige Athleten, die sich mit der Zeit vollkommen im Laufen verlieren und ihren Körper über kurz oder lang ruinieren. Aufderklamm: „Ich kenne einige Läufer, die im Jahr 30 Marathons bestreiten. Da stimmt das Leistungsverhältnis nicht mehr, die richtige Lauftechnik wird für diese Leute umso wichtiger.“
Manche Athleten würden aber jeden Rahmen sprengen. So wie beispielsweise Berglauf-Weltmeisterin Andrea Mayer, die vor einem wichtigen Wettkampf noch einen intensiven 5000-Meter-Bahnlauf absolviert. Nur so als Formtest. (rost)