Nobelpreisträger Modiano wird 70 - Spurensucher vergangenen Lebens

Paris (APA/dpa) - Patrick Modiano wandelt unermüdlich auf den Pfaden der Vergangenheit. Zu seinem 70. Geburtstag (30. Juli) erscheint die jü...

Paris (APA/dpa) - Patrick Modiano wandelt unermüdlich auf den Pfaden der Vergangenheit. Zu seinem 70. Geburtstag (30. Juli) erscheint die jüngste Erinnerungsreise namens „Damit du dich im Viertel nicht verirrst“ des französischen Nobelpreisträgers auf Deutsch. Eine neue Reise, mit der er versucht, Ordnung in eine konfuse und mit Schweigen bedeckte Zeit zu bringen, wie der Autor die Jahre seiner Kindheit beschreibt.

Paris, Okkupation, Auschwitz: Erinnerungsfetzen, die Patrick Modiano wie ein Puzzle zusammenführt, um die Vergangenheit zu rekonstruieren. Seit über vierzig Jahren setzt der französische Schriftsteller in seinen Büchern Namen und Straßen aneinander, knüpft an Fakten und Träume an, um der Geschichte seines Lebens auf die Spur zu kommen, die 1945 als Sohn eines jüdischen Kaufmanns und einer flämischen Schauspielerin in der Nähe von Paris begann.

Modiano hat sein Werk der Pflicht zur Erinnerung verschrieben, wofür ihm im Oktober 2014 auch der Nobelpreis für Literatur zuerkannt wurde. Er beherrsche die Kunst des Erinnerns, mit der er die unbegreiflichsten menschlichen Schicksale wachgerufen und die Lebenswelt während der Besatzung sichtbar gemacht habe, begründete die Jury ihre Entscheidung, aus Modiano den 111. Preisträger der weltweit höchsten Auszeichnung zu machen. „Damit du dich im Viertel nicht verirrst“ ist in Frankreich zeitgleich mit Modianos Nobelpreis gefeiert worden. Mit mehr als 700.000 Exemplaren gehört der Roman dort zu den meist verkauften Büchern 2014.

In seinem jüngsten Werk dient ihm diesmal die Romanfigur Daragane als Protagonist seiner Geschichte, die ihn durch Paris und nach Saint-Leu-la-Foret führt. In dem rund 20 Kilometer nördlich der französischen Hauptstadt liegenden Ort verbrachte der Ich-Erzähler als Kind mehrere Monate in einem Haus, in dem zwielichtige Personen ein und aus gingen. Warum er dort ohne seine Eltern lebte, bleibt unklar, wie so vieles in seinen Erzählungen. Denn Modiano schreibt nicht, weil er etwas verstanden hat, sondern weil er etwas verstehen will - seine Geschichte und die der Opfer des Krieges und der Okkupation.

„1945 geboren zu sein, nachdem Städte zerstört und ganze Bevölkerungen verschwunden waren, muss mich, wie andere meines Alters, sensibler für die Themen Erinnerung und Vergessen gemacht haben“, erklärte er in seiner Nobelpreisrede. Und so recherchiert der Ich-Erzähler in „Dora Bruder“ anhand einer Suchanzeige in einer Zeitung nach einem jüdischen Mädchen, das 1941 während der Besetzung Frankreichs durch die deutsche Wehrmacht verschwand. Modiano stellt darin ihr Leben nach und verknüpft es immer wieder mit eigenen Erinnerungen.

Ein entscheidendes Ereignis im Leben Modianos war der Tod seines einzigen Bruders Rudy, der 1957 im Alter von neun Jahren an Leukämie starb. Viele seine Bücher sind ihm gewidmet. Dass sich Modiano Jahre lang mit der Lebensgeschichte des 15-jährigen Mädchens mit dem Familiennamen Bruder auseinandersetzt, ist deshalb auch kein Zufall.

In seinem autobiografischen Roman „Stammbuch“ erzählt Modiano mehr und erstmals direkter von seiner unglücklichen Kindheit: von seinem jüdischen Vater, der verfolgt wird; wie er in Internate abgeschoben wird, flieht und sich mit kleinen Diebstählen über Wasser hält - bis er dem Dichter Raymond Queneau begegnet, durch den er zur Schriftstellerei gelangt.

Peter Englund, bis vor kurzem Ständiger Sekretär der Schwedischen Akademie, die den Nobelpreis für Literatur vergibt, nannte Modiano einen „Marcel Proust unserer Zeit“. Im Gegensatz zum Romanautor von „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ nährt Modiano seine flüssige und melancholische Prosa mit kurzen und schlichten Sätzen. Belanglose Details wie ein Früchtekorb oder eine Suchanzeige reichen ihm aus, um seine fast schon kriminalistischen Ermittlungen in Gang zu bringen.

Modiano scheut die Öffentlichkeit und das gesprochene Wort. Auf der Nobelpreis-Pressekonferenz in Paris trat ein Schriftsteller auf, der nach Worten suchte und sich in seinem über 1,90 Meter langen Körper sichtlich unwohl fühlte. Modiano betrachte die Welt von seiner inneren Kartografie heraus. Seine Familie stelle das Verbindungsglied zur Wirklichkeit dar, beschrieb Verlagsdirektor Antoine Gallimard seinen langjährigen Autoren. Modiano, der über 30 Bücher geschrieben hat, ist seit 1970 verheiratet und Vater zweier Töchter.

(S E R V I C E - Patrick Modiano: „Damit du dich im Viertel nicht verirrst.“ Aus dem Französischen von Elisabeth Edl, 160 Seiten, Carl Hanser Verlag, 19,50 Euro.)