Medien in der Türkei: Arbeiten mit einer Pistole am Kopf

Ankara/Cizre (APA) - In mehreren Städten im Südosten der Türkei herrschen Ausgangssperren. Unabhängige Berichte über die Lage der Bevölkerun...

Ankara/Cizre (APA) - In mehreren Städten im Südosten der Türkei herrschen Ausgangssperren. Unabhängige Berichte über die Lage der Bevölkerung sind kaum erhältlich. Schreckensberichte über Polizeiübergriffe verbreiten sich wie ein Lauffeuer über soziale Medien.

Ein am Sonntag in den sozialen Medien kursierendes Video zeigt einen an ein Panzerfahrzeug geketteten toten Körper, der durch die Straßen geschleift wird. Die Szene wurde in der südöstlichen Stadt Sirnak, nahe der Grenze zum Irak gefilmt. Aufgezeichnet von den Einsatzkräften, die den Leichnam während seiner Schändung wüst beschimpften.

Es handelt sich um die Leiche des 24-jährigen Haci Lokman Birlik, der bei Auseinandersetzungen zwischen der PKK-Jugendorganisation YDG-H und Spezialeinheiten der Polizei verletzt und Zeugenaussagen zufolge von einem Spezialkommando exekutiert wurde. Das Video wurde mittlerweile als echt bestätigt. Die regierungsnahe Zeitung „Sabah“ bezeichnete die im Video festgehaltene Leichenschändung der Sicherheitskräfte als „Routinevorgangsweise“.

Das Foto von dem Vorfall wurde über ein Twitter-Konto mit dem Namen JITEM verbreitet. Ein Name, der in der Türkei düstere Erinnerungen wachruft. Die Existenz des Gendarmerie-Geheimdienstes Jitem wurde lange von der Türkei bestritten und gilt als das „dunkle Gesicht des türkischen Staates“.

Im Namen des Antiterrorkampfes wurden in den 1990er-Jahren von der Geheimorganisation systematisch Vergewaltigungen, Folter und Mord in Auftrag gegeben oder selbst verübt. Bis heute warten tausende kurdische Familien auf Hinweise, was mit ihren vor zwanzig Jahren verschwundenen Angehörigen passierte. Die Antwort liegt nach Angaben von türkischen Menschenrechtsaktivisten in Hunderten Massengräbern im Südosten der Türkei.

Selahattin Demirtas, Vorsitzender der prokurdischen Partei HDP, sprach am Montag von einem „unmenschlichen Vorfall“. Täglich würden ähnliche Vorfälle passieren, die nicht ans Tageslicht kommen würden. Er forderte den Innenminister Selami Altinok auf zurückzutreten, wenn er ein „Ehrgefühl“ besitze. Ministerpräsident Ahmet Davutoglu versicherte, dass der Vorfall untersucht werde, betonte aber gleichzeitig, dass der Terrorkampf „mit aller Entschlossenheit“ weitergeführt werde.

Kurdenvertreter werfen der Polizei und der Armee vor, beim Kampf gegen die PKK schwere Menschenrechtsverletzungen zu begehen. Die Stadt Cizre in der gleichnamigen Provinz Sirnak war neun Tage lang Schauplatz von Kämpfen zwischen PKK und Spezialkräften der Polizei. Alle Zugänge wurden abgeriegelt, die Bewohner gerieten ins Kreuzfeuer. Die Bilanz der Ausgangssperre beläuft sich auf 23 Tote in der Zivilbevölkerung. Der Gouverneur der Provinz spricht von 42 toten PKK-Rebellen und 25 verletzten Polizisten.

Spätestens seit dem Wahlerfolg der HDP am 7. Juni war die von einer Mehrheit der Kurden mitgetragene Friedensvereinbarung mit der PKK das Papier nicht mehr wert, auf dem es geschrieben war. Seit dem Selbstmordanschlag in der türkischen Grenzstadt Suruc mit 33 Toten sind die Kämpfe zwischen PKK und der türkischen Regierung wieder voll entbrannt.

In den vergangenen Wochen verübte die PKK in der Türkei zahlreiche Anschläge auf Sicherheitskräfte. Die Armee reagierte mit Bombardierungen von mutmaßlichen PKK-Stellungen im Nordirak und schickte inzwischen Spezialkräfte zur Jagd auf PKK-Kämpfer über die Grenze. Die türkische Regierung und die von ihr als „Terrororganisation“ gebrandmarkte PKK beschuldigen sich gegenseitig, die bis dahin geltende Waffenruhe gebrochen zu haben. Den Kämpfen sind in den vergangenen Wochen mehr als 500 Menschen zum Opfer gefallen, davon rund 100 Zivilisten. Ein Drittel der Opfer waren Frauen.

Die Kämpfe und die Ausgangssperren gehen mit unverminderter Härte weiter. In Nusaybin im Bezirk Mardin herrscht nach Gefechten mit der PKK mittlerweile seit fünf Tagen Ausgangsperre. Wieder gerät die Zivilbevölkerung zwischen die Fronten. Es soll bereits Engpässe bei Nahrung und Wasser geben. Die Stadt ist aktuellen Medienberichten zufolge mit Gräben und Barrikaden vollkommen von der Außenwelt abgeschirmt.

Gleiches gilt für die Stadt Silvan in der Provinz Diyarbakir. Auch sie ist seit Freitag abgeriegelt. Hier soll es weder Strom noch Wasser geben. Die Medien berichten von Toten und Verletzten. Die Ausgangssperre verhindert, dass die Toten begraben werden können.

Nusirevan Elci, Mitglied der Rechtsanwaltskammer von Sirnak und Bewohner der Stadt Cizre, für die im September neun Tage lang eine Ausgangssperre galt, wirft den Behörden vor, außerhalb der Gesetze zu agieren. Selbst in den 1990er-Jahren, als die Kämpfe zwischen den Sicherheitskräften und der PKK am stärksten wüteten, habe es keine 24-Stunden-Ausgangssperren über so einen langen Zeitraum gegeben, berichtete er dem in Diyabakir arbeitenden Journalisten Mahmut Bozarslan.

Für Journalisten ist es nicht ungefährlich, über die Ereignisse zu berichten. Am Montag hat die Zeitung „Cumhuriyet“ ein in den sozialen Netzen kursierendes Video vom Sonntag aus der besetzten Stadt Silvan veröffentlicht. Darin werden zwei türkische Journalisten von Spezialeinheiten der Polizei mit einer Waffe am Kopf daran gehindert, weiter zu drehen. Die Reporter von Özgür Gün TV und der Nachrichtenagentur Dicle wurden in Folge verhaftet und zu einer Geldstrafe aufgrund des Bruches der Ausgangssperre verdonnert.

Aber Berichterstatter werden nicht nur von Sicherheitskräften bedroht. Nach Angaben Bozarslans sei die Bevölkerung im Südosten mißtrauisch und halte viele Reporter für voreingenommen.

In einem Bericht des Online-Magazins „Al Monitor“ über die Situation für Journalisten in Cizre zitiert Bozarslan den Vorsitzenden der Journalistenvereinigung Südostanatolien, Veyse Ipek. Dieser kritisierte, dass türkische Reporter ihren Beruf als „Mittel der psychologischen Kriegsführung“ einsetzten. Ihre Berichterstattung würde dem Krieg dienen, nicht dem Frieden.

Auch Ahmet Abakay, Präsident der Vereinigung progressiver Journalisten in der Türkei, klagt über die nichtexistente Pressefreiheit im Land. Vor allem Reporter, die aus dem Südosten des Landes berichteten, würden sowohl von der PKK als auch von der Regierung unter Druck gesetzt.