VW-Dieselskandal erschüttert Wolfsburgs Selbstvertrauen
Wolfsburg (APA/dpa) - Zwischen Berlin und Hannover liegt Wolfsburg. Die Stadt mit 120.000 Einwohnern ist Volkswagen durch und durch - ohne d...
Wolfsburg (APA/dpa) - Zwischen Berlin und Hannover liegt Wolfsburg. Die Stadt mit 120.000 Einwohnern ist Volkswagen durch und durch - ohne den Autobauer geht hier nichts. Kein Wunder, dass die Diesel-Manipulationen das Thema Nummer eins sind. Ein Besuch im Epizentrum des Abgasskandals.
Wolfsburg ist verärgert. Jämmerlich sei das alles, sagt etwa Elisabeth. Was die da drüben bei Volkswagen gemacht haben. Haushaltssperre, volle Zeitungen - der Abgasskandal ist Tagesgespräch. „Aber wir wissen ja noch nicht viel“, ergänzt die ältere Dame, kneift die Augen hinter ihrer Hornbrille zusammen, streicht sich eine Strähne ihrer langen grauen Haare aus dem Gesicht und grinst schief. Seit die Stadt angesichts der drohenden Milliardenkosten für VW vorsorglich schon mal den kommunalen Haushalt auf Eis legte, wissen auch die Wolfsburger, dass die Lage ernst ist.
Je näher man dem gigantischen Werk kommt, desto häufiger mischt sich unter die Meinungen über die aktuelle VW-Affäre auch Trotz. „Ich finde das alles übertrieben“, meint am verregneten Dienstagvormittag um kurz nach 9.00 Uhr ein Mitarbeiter beim Gang aufs Werksgelände.
Gleich will der neue VW-Chef Matthias Müller erstmals zu den Beschäftigten sprechen. Seinen Namen will der Mann nicht in der Zeitung gedruckt sehen, seine Meinung allerdings gern: „Wenn viele Menschen sterben, wird da einmal drüber gesprochen. Jetzt pusten wir ein bisschen Dreck raus, und da wird so ein Wirbel gemacht.“
Doch zurück zu Elisabeth, die in Wahrheit anders heißt. Sie hat einen Stand auf einem Kunsthandwerker-Markt, draußen auf der Burg Neuhaus, ein paar Kilometer außerhalb von Wolfsburg. Die Stadt ist dank der Eingemeindung etlicher Dörfer in der 70er Jahren zur Großstadt geworden - und zugleich zu einer Mini-Version eines Landkreises.
Rund um die kleinen Orte breiten sich Neubaugebiete aus, seit Jahren wächst VW und mit dem Autobauer auch der regionale Wohlstand. Hier, ganz im Osten von Niedersachsen, ist Volkswagen alles - selbst für Leute, die gar nicht bei VW arbeiten. So wie Elisabeth.
Ihre Geschäfte laufen, gut gelaunt drängen sich die Menschen über den Markt. Über den Skandal werde viel, aber nicht allzu lange geredet, sagt sie. „Es ist irgendwie noch sehr still.“
Noch. Bisher weiß auch hier niemand, was aus diesem Abgasskandal alles werden wird. Teuer wird es für VW - so viel ist sicher. Und vor allem deswegen muss sich Wolfsburg Sorgen machen. Mehr als 70.000 Menschen arbeiten im Stammwerk, gut 120 000 leben in der Stadt.
Die wirtschaftliche Bedeutung des größten deutschen Unternehmens reicht weit über die Grenzen von Stadt und Land hinaus, doch hier ist sie besonders greifbar. Konzernfremde Autos wie Opel oder Ford mit einem „WOB“ auf dem Kennzeichen haben Seltenheitswert. Dafür sieht man - stets glänzend - die neuesten Modelle aus dem Hause Volkswagen.
Am Ende könnte das Diesel-Drama um Betrug und technische Tricks so viel Geld kosten, dass es selbst für VW nicht mit einem Griff in die gut gefüllte Kasse getan sein könnte. Diese Erkenntnis schwappte in den vergangenen Tagen durch die Stadt wie die verspätete Flutwelle nach einem weit entfernten Erdbeben - und erinnerte die verwöhnten Wolfsburger und mit ihnen ganz Niedersachsen daran, dass nach wie vor gilt: „Niest VW, liegen wir flach.“
Und VW schnupft in diesen Tagen heftiger denn je. „Wir stehen vor der größten Bewährungsprobe unserer Geschichte“, ruft Konzernchef Müller den rund 22.000 Mitarbeitern auf der Betriebsversammlung zu, wie Teilnehmer aus der nicht-öffentlichen Veranstaltung berichten. Und obwohl er selbst kein gebürtiger Wolfsburger ist, appelliert Müller sogleich an das Wir-Gefühl. Von Familie, wie es die IG Metall macht, will er zwar nicht sprechen, aber zumindest vom „Team Volkswagen“ ist die Rede. Müller will die Reihen schließen, um die Krise zu meistern.
Bisher haben die Wolfsburger schon einige Katastrophen überstanden. Das schweißt zusammen - und macht einem gerade in der Umgebung nicht nur Freunde. Ohne VW gäbe es die Stadt nicht. Adolf Hitler legte 1938 den Grundstein für die Fabrik, die bis heute und wohl für ihre gesamte Existenz die Stadt und die Menschen prägt und prägen wird.
Vorher standen hier nur ein paar Dörfer und zwei etwas größere Orte. Links Fallersleben, rechts Vorsfelde, quer dazu der Mittellandkanal und die parallel laufende Bahnstrecke zwischen Hannover und Berlin.
Dazwischen, nördlich des Kanals, steht das Schloss Wolfsburg: schönste Weser-Renaissance, umgeben von ein paar Fachwerkhäusern und der Kirche St. Marien. Auch im Zentrum zeugen ein paar Bauernhäuser noch von den einstigen Dörfern Heßlingen oder Rothenfelde.
„Da weiß man doch wirklich nicht, was man sagen soll“, meint ein Werker, der seinen Namen gar nicht nennen will. Klar, er sei sauer. Aber Angst? Wut? „Nein.“ Das sind große Gefühle. Und die Menschen hier sind nicht für große Gefühlsregungen bekannt. Stattdessen herrscht Fassungslosigkeit - im Wortsinn.
Wie konnte das passieren? Wie konnten die Leute auf der anderen Seite des Kanals glauben, damit durchzukommen? Nicht erwischt zu werden? Wie konnten sie die Risiken in Kauf nehmen, die der Betrug mit sich bringt - nicht nur für sich selbst und ihre Karrieren, sondern schlimmstenfalls für das ganze Unternehmen, für die ganze Stadt.
Oben auf dem Klieversberg trennt der Wind ein paar gelbe Blätter von den Bäumen. Etwas über 100 Meter hoch erhebt sich der Hügel im Süden Wolfsburgs. Wären die Nationalsozialisten beim Bau ihrer Musterstadt für die Arbeiter der gigantischen Autofabrik auf der anderen Seite des Mittellandkanals nicht vom Weltkrieg erst gebremst und dann völlig abgehalten worden - hier stünde die Stadtkrone, repräsentativ und protzig. Nun steht hier ein Mahnmal für die Kriegstoten. Ein halbversunkener Ein-Mann-Bunker erinnert an die finstersten Tage.
Wie groß das VW-Werk ist, lässt sich von hier aus am besten ermessen. Die Perspektive drängt die Häuser der Stadt zusammen, dahinter erstreckt sich das Gelände, in dem das Fürstentum Monaco bequem Platz fände. Es ist das Herz und Hirn von Europas größtem Autobauer.
Wer wusste wann was? Wer hatte die Idee? Der Blick geht nach Norden, zum VW-Hochhaus. Irgendwo hinter den kilometerlangen Backsteinfronten muss jemand den Diesel-Plan geschmiedet haben. Aber wer? Und wann? Wolfsburg macht sich Sorgen. Doch Antworten hat hier niemand parat.
Vor zehn Jahren war das schon einmal so. Damals erfuhren die verdutzten Wolfsburger aus der Zeitung, dass Betriebsräte Dienste von Prosituierten in Anspruch genommen und auch sonst etliche Privilegien mit einer dreisten Selbstverständlichkeit genossen hatten, so dass vielen Werkern die Spucke wegblieb. Diese VW-Affäre galt lange Jahre als Tiefpunkt in der wechselvollen VW-Geschichte.
Dazu war sie außerordentlich peinlich - auch weil sie einen Grad an Kumpanei offenbarte, der selbst in Wolfsburg viele überraschte. Dennoch: Es gab auch etwas zu feixen, denn die Affäre erzählte eine Geschichte von Gier, Geld, Macht und Sex.
Im Sommer 2005 - der Skandal erreichte seinen Siedepunkt - machte ein Mann einen großen Karriereschritt: Bernd Osterloh beerbte Klaus Volkert an der Spitze des Gesamtbetriebsrates und wurde ein ziemlich mächtiger Mann im Konzern. Diese Macht ist seit diesen Tagen nicht kleiner geworden - im Gegenteil. Osterloh mehrte noch den Einfluss des Betriebsrats und seinen eigenen gleich mit.
Mitten in der Krise, auf dem Sommerfest der Gewerkschaft, stand der frischgebackene Chef-Arbeitnehmervertreter damals im T-Shirt am Würstchenstand und redete Klartext: „Eines ist klar, wer Mist gemacht hat, muss dafür gerade stehen.“ Ironie der Geschichte: Heute muss er wieder ähnliche Sätze sagen. Zudem hat die interne Revision bei Volkswagen herausgefunden, dass das Diesel-Drama wohl just in jenem Jahr seinen Anfang nahm, vielleicht aber auch 2006.
Osterloh war vor zehn Jahren sicher, dass die Stadt angesichts der Krise zusammenrücken, sich die Erfolge nicht von ein paar Nestbeschmutzern kaputt machen lassen würde. Damals behielt er recht. VW erholte sich nicht nur. Der Umsatz des Autobauers hat sich seither sogar fast verdoppelt. 2014 waren es für deutsche Verhältnisse sagenhafte 202 Mrd. Euro. Mehr als 600.000 Menschen arbeiten rund um den Globus für den Konzern, etwa jeder achte davon in Wolfsburg. Nun halten sie wieder zusammen.
Das ist vielleicht ein menschlicher Reflex - aber er ist auch typisch für den Mikrokosmos Wolfsburg. Die Menschen sind daran gewöhnt, dass ihre Stadt auch in ruhigen Zeiten nicht eben bewundert wird. Der VW-Erfolg hat aus den Minderwertigkeitskomplexen der künstlichen Stadt ein ganz eigenes, trotziges Selbstbewusstsein geschaffen.
Wolfsburg ist nicht schön, nicht groß. Die vielen Errungenschaften - vom weltweit renommierten Kunstmuseum über Eishalle, Spaßbad, Ritz-Carlton-Hotel, und Planetarium bis zur ICE-Haltestelle - gehen natürlich auf das Konto des Automobilbaus und sind keineswegs typisch für eine 120.000-Einwohner-Stadt. Die Wolfsburger wissen das. Doch sie wollen sich das nicht ständig von Fremden sagen lassen - oder sich gar dafür rechtfertigen müssen. Das Gefühl schweißt zusammen.
Gleiches gilt für den Fußballclub VfL, der dank der VW-Millionen seit Jahren wie erfolgsverwöhnte Traditionsvereine wie Bayern München, FC Barcelona oder Manchester United auf dem Transfermarkt agieren kann. Dank VW ist das Großstädtchen im internationalen Fußball zu Hause.
Spott und Häme von den gegnerischen Fans sind den „Wölfen“ seither ähnlich gewiss wie bei den finanzkräftigen Mäzenen-Vereinen in Hoffenheim oder Leipzig. Seit 2012 versucht niemand Geringeres als Klaus Allofs als Sportchef, die von VW alimentierte VfL Wolfsburg Fußball GmbH zu einem „sympathischen Club“ zu machen. Dafür wurde er kurzerhand aus seinem laufenden Vertrag in Bremen herausgekauft.
Doch die rosigen Zeiten für den Wolfsburger Stadtkämmerer könnten bald vorbei sein. Jahr für Jahr richtete sich - etwa aus Hannover, Braunschweig oder Göttingen - der neidvolle Blick der Rathaus-Oberen auf das volle Säckel der reichsten Stadt Niedersachsens.
Und nicht nur das. Dank der VW-Steuern etablierte sich über Jahre der „Wolfsburger Standard“, wie es Thorsten Bullerdiek vom Städte- und Gemeindebund nennt. Top-Ausstattungen in Kitas und Schulen, moderne Sport- und Spielplätze, kulturelle Angebote, von denen sogar manche Millionenstadt träumt - in Wolfsburg war das normal.
Die jetzt von Konzernchef Müller angekündigten Sparmaßnahmen könnten die Stadt damit gleich mehrfach schmerzhaft treffen - so drohen spendable Investitionen ebenso wegzufallen wie Arbeitsplätze oder Steuereinnahmen. Vom Imageverlust ganz zu schweigen.
Das ist auch 2015 nicht anders als 2005 oder in den Jahren davor. In den Ärger über die Verantwortlichen bei VW mischt sich bereits jetzt Trotz gegenüber jenen, die plötzlich alles infrage stellen. Ob es der Stadt und dem Unternehmen hilft, wird sich erst zeigen müssen.
Elisabeth jedenfalls ist sicher, dass es am Ende gut wird. Eine Alternative dazu gibt es allerdings auch nicht wirklich. So bleiben vorerst nur das Warten und bei manchen die Angst - auch das schweißt zusammen. Darauf hofft seit diesem Dienstag auch der Neu-Wolfsburger Matthias Müller.
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