Wie die USA versuchen, ihre Gefängnisse zu leeren
Bei der Justizreform arbeiten Konservative und Liberale ausnahmsweise zusammen.
Von Floo Weißmann
Washington –Zwölf Jahre ist es her, dass Weldos Angelos versuchte, eine kleinere Menge Marihuana an einen Polizeispitzel zu verkaufen. Seitdem sitzt er im Gefängnis, verurteilt zu 55 Jahren Haft. Sogar der Richter erklärte sich bei der Urteilsverkündung frustriert darüber, dass er eine so hohe Mindeststrafe zu verhängen hatte.
Fälle wie Angelos gibt es unzählige: Menschen, die wegen kleinerer Drogenvergehen ohne jede Gewalttätigkeit für Jahrzehnte weggesperrt wurden.
Die absurd hohen Mindeststrafen stammen aus den Achtzigern. Sie waren Teil des „Kriegs gegen Drogen“, zu dem u. a. auch Militäreinsätze gehörten. Man hoffte auf eine abschreckende Wirkung.
Heute ist klar, dass die drakonischen Strafen ihr Ziel verfehlten – ganz im Gegenteil. Sie haben wesentlich dazu beigetragen, dass in den USA heute viel mehr Menschen hinter Gitter sitzen als in jedem anderen Land – nämlich 737 pro 100.000 Einwohner. Das ist siebenmal mehr als etwa in Österreich.
Die Gefängnisse kosten die USA jährlich 80 Mrd. Dollar. Zudem fallen Häftlinge als Partner und Vater, als Arbeitskräfte und Konsumenten aus. Schwarze sind zehnmal so häufig betroffen wie Weiße, obwohl die Drogenrate bei beiden Gruppen ähnlich hoch liegt. Das hat auch demokratiepolitische Folgen, denn Vorbestrafte dürfen nicht mehr wählen.
Mit dieser verfehlten Politik soll jetzt Schluss sein. Die unabhängige Sentencing Commission im Justizministerium, die bindende Richtlinien für die Strafbemessung bei Bundesgerichten erstellt, hat bereits im Vorjahr die Strafen für Drogenvergehen herabgesetzt.
Etwa 46.000 Häftlinge in Bundesgefängnissen können unter Berufung auf die neuen Richtlinien ihre vorzeitige Entlassung beantragen. 6000 positive Bescheide gibt es bereits. Diese Häftlinge sollen laut Justizministerium Ende Oktober freikommen.
Die Initiative der Kommission ist aber nur ein Vorgriff auf eine umfassende Justizreform, die sich bereits abzeichnet.
Präsident Barack Obama wirbt seit Monaten dafür. „Wenn man ein kleiner Drogendealer ist oder gegen seine Bewährungsauflagen verstößt, schuldet man der Gesellschaft etwas“, sagte er. „Aber man schuldet ihr nicht 20 Jahre.“ Im Juli besuchte Obama als erster US-Präsident eine Haftanstalt.
Auch viele der Republikaner, die den Kongress dominieren und Obama sonst nach Kräften blockieren, haben sich einer Justizreform verschrieben. Der Senat hat vorige Woche einen überparteilichen Entwurf fertig gestellt, der jetzt zirkuliert.
Die Kampagne für mehr Fairness und für die Leerung der Gefängnisse hat eine ungewöhnliche Breite. Sie reicht von den ultrakonservativen Politik-Sponsoren Charles und David Koch bis zur Bürgerrechtsunion ACLU.
Laut einer Umfrage im Auftrag der ACLU meinen zwei Drittel der Wähler, dass die Kommunen sicherer würden, wenn man die Gefängnisse leert und mehr für Prävention und Rehabilitation tut. Selbst 54 Prozent der Republikaner vertraten diese Haltung.
Trotz der großen Einigkeit bleibt unklar, ob die Justizreform noch in Obamas Amtszeit beschlossen werden kann. Als Bremsklotz fungiert der radikale Flügel der Republikaner, der die eigene Fraktion im Repräsentantenhaus ins Chaos gestürzt und den Vorwahlkampf mit Law-and-Order-Tönen vergiftet hat. Gelingt die Reform trotzdem, wäre sie ein seltenes Beispiel für überparteiliche Kooperation.
Davon profitieren würde wohl auch Weldos Angelos. Wegen einer kleineren Menge Marihuana hat er das Lebensende seines Vaters verpasst, Partnerin und Job verloren sowie den Kontakt zu seinen beiden Söhnen; es fehlte schlicht das Geld für einen Besuch im Gefängnis. Der Washington Post sagte er: „Das Hauptziel in meinem Leben ist, rauszukommen und mich um meine Kinder zu kümmern.“