Paris, wie geht es dir?
Paris (APA) - Vor zehn Monaten haben die schwersten Terroranschläge seit Jahrzehnten die französische Hauptstadt und ganz Europa erschüttert...
Paris (APA) - Vor zehn Monaten haben die schwersten Terroranschläge seit Jahrzehnten die französische Hauptstadt und ganz Europa erschüttert. Mühsam ringt Paris seither um Normalität. Aber die Bedrohung ist - zumindest in den Köpfen - allgegenwärtig. Und hat die Gesellschaft verändert.
7:30 Uhr, über der Rue du Faubourg Saint Martin liegt noch die Dunkelheit. Vor einem verfallenen Haus in der Nähe des Pariser Ostbahnhofes stehen drei Soldaten in Tarnuniform und mit Maschinenpistole bewaffnet, nur wenige Meter entfernt heulen Polizeisirenen. Was los ist? „Gar nichts“, sagt einer der drei, während Polizeibusse mit Blaulicht, aber ohne Passagiere vorbeibrausen. „Wir sind hier nur zur Ihrer Sicherheit, machen Sie sich keine Sorgen.“
Für die Bewohner der französischen Hauptstadt gehören diese Szenen seit dem islamistischen Anschlag auf das Satiremagazin „Charlie Hebdo“ am 7. Jänner zum Alltag. Seitdem ist die höchste Stufe des Anti-Terrorplans „Vigipirate“, die „Attentatwarnung“, ununterbrochen in Kraft. Entwarnung gab es keinen einzigen Tag lang.
Rund 4.000 Soldaten bewachen im Großraum Paris aktuell 305 „gefährdete Orte“, wie Flughäfen, Bahnhöfe, Touristenattraktionen oder religiöse Einrichtungen. Gebracht hat „Vigipirate“ trotzdem nichts, zeigte sich Jean-Hugues Matelly von der Polizistenvereinigung „Gendxxi“ kürzlich gegenüber der Tageszeitung „Le Monde“ überzeugt. „Dass man ein Attentat verhindern könnte ist illusorisch“, sagte er. „Das ist ein Risiko, das man akzeptieren und mit dem man umzugehen lernen muss.“ Der einzige Effekt sei ein psychologischer, fügte er hinzu, Touristen und die Bevölkerung würde auf diese Art und Weise „beruhigt“.
Oder erst recht beunruhigt. Dazu beigetragen hat zuletzt Marc Trevidic, der oberster Anti-Terrorstaatsanwalt Frankreichs war, bis seine auf zehn Jahre beschränkte Amtszeit im Sommer auslief. „Das Schlimmste steht uns noch bevor“, sagte er vergangene Woche in einem Interview mit dem Magazin „Paris Match“, aus dem unzählige französische Medien zitierten. Frankreich habe aufgrund seiner geografischen Lage sowie der Militärinterventionen in Syrien und Mali die USA als „Feind Nummer eins“ der Terrormiliz „Islamischer Staat“ abgelöst, sagte Trevidic. „Die Franzosen werden sich an die Realität von Attentaten gewöhnen müssen, denn diese werden meiner Meinung nach unausweichlich sein.“
„Paris Match“ ist ein Boulevardblatt. Aber der 50-jährige Trevidic hat in Frankreich einen exzellenten Ruf, selbst linke, staatskritische Politikwissenschafter stellen ihm ein gutes Zeugnis aus. Sollte man seine Warnung also ernst nehmen? Wäre es nicht ein leichtes, während „l‘heure de pointe“, der französischen Rush-Hour, eine Bombe in der bis auf den letzten Platz vollgepferchten Metro in die Luft zu jagen? Oder einfach nur, um sich zu schießen?
„Haben Sie eigentlich Angst vor einem Attentat?“ Die Frage an eine etwa 40-jährige Pariserin im beigen Trenchcoat löst bei dieser vor allem Verwunderung aus. Ungleich aufgeregter ist da schon der Herr im Anzug neben ihr: „Sind Sie verrückt? Wollen Sie hier eine Panik auslösen?“ Natürlich nicht. Und wahrscheinlich hat er mit seiner Kritik Recht.
Vielleicht ist sie aber auch nur ein Zeichen von Nervosität, angesichts einer immer weniger geeinten französischen Gesellschaft, in der Minderheiten für manche keinen Platz mehr zu haben scheinen. 79 Angriffe und 197 Drohungen gegen muslimische Einrichtungen gab es zwischen Jänner und Ende Juni 2015 nach Angaben des Innenministerium. Damit haben sich deren Anzahl im Vergleich zu 2014 mehr als verdreifacht, als es 27 Angriffe und 45 Drohungen waren. Und erst vergangene Woche bezeichnete die EU-Abgeordnete Nadine Morano, die den Republikanern des konservativen Ex-Präsidenten Nicolas Sarkozy angehört, Frankreich als „ein jüdisch-christliches Land der weißen Rasse“.
Thomas Guenole hingegen diagnostiziert eine kollektive „Islamopsychose“. Der junge Politikwissenschafter hat gerade ein medial vielbeachtetes Buch mit dem provokanten Titel „Les jeunes de banlieue mangent-ils des enfants?“ veröffentlicht, zu deutsch: „Die Jugendliche aus den Banlieues, essen sie Kinder?“. Seit den Anschlägen im Jänner sei in Frankreich eine „vollkommend wahnsinnige Darstellung des Islams“ vorherrschend, moniert er. Getragen von rechts-konservativen Intellektuellen und verbreitet von Politikern wie Sarkozy oder dem amtierenden sozialdemokratischen Premier Manuel Valls, setzte diese muslimische Jugendliche aus den armen Vorstädten mit gewaltbereiten Terroristen gleich.
„Und Menschen, die sich in einem Zustand der Psychose befinden, sind nur sehr schwer wieder zur Vernunft zu bringen“, merkt Guenole an. Obwohl Studien belegen würden, dass jugendliche Muslime wesentlich seltener in die Moschee gingen als noch ihre Eltern. Was freilich nicht heiße, dass eine Minderheit nicht trotzdem radikal sein, fügt er hinzu. „Und eine ganz kleine Minderheit zur Waffe greift.“
Den Grund dafür sieht er aber mehr in einer wirtschaftlich verursachten Spaltung der Gesellschaft, denn in der Religion. „Die Globalisierung der Weltwirtschaft funktioniert nur, wenn heimische Arbeitskräfte durch billigere und ärmere ausländische ersetzt werden. In Frankreich sind das oft Muslime mit nicht-weißer Hautfarbe.“ Dadurch entstünden zwei Gruppen, „die Mittelklasse, die Angst vor den Armen hat, und die Armen, denen nichts weiteres bleibt als ihre weiße Hautfarbe, um sich von den anderen abzuheben.“ Nur wenn es der Politik gelinge, „Ungleichheiten abzubauen und allen dieselben Changen zu geben“, könne diese Spaltung überwunden und dem Terrorismus der Nährboden entzogen werden, glaubt Guenole.
Nur davon scheint Frankreich, wie auch der Rest Europas nach Jahren der Wirtschaftskrise weit entfernt. Vorerst wird also versucht, die islamistische Gewalt mit anderen Mitteln zu bekämpfen. Erst am Samstag trat das neue Geheimdienstgesetz in Kraft, das es künftig erlaubt, auch ohne die Zustimmung eines Richters, Menschen abhören zu lassen. Die gesamte Internetkommunikation soll zudem über sogenannte „schwarze Boxen“ laufen - spezielle Algorithmen, die potenzielle Terroristen herausfiltern sollen. Das Parlament hatte das Gesetz im Sommer mit überwältigender Mehrheit verabschiedet, obwohl Datenschützer und Journalisten, aber auch Guenole und Anti-Terrorstaatsanwalt Trevidic dagegen mobilisiert hatten.
Aber braucht es wirklich all diese Sicherheit? Riskieren wir damit nicht das, was den ermordeten „Charlie Hebdo“-Mitarbeitern so wichtig war, nämlich die Meinungsfreiheit? „Die Freiheit muss sich voll entfalten können, aber in Sicherheit“, sagt Maryse Wolinski. Ihre Sicht der Dinge verdient in diesem Fall vielleicht etwas mehr Beachtung, als die anderer. Zählte ihr Mann, Georges Wolinski, doch zu den Opfern des Anschlags auf die Redaktion des Satiremagazins.
„Auch bei Charlie haben sie sich immer geweigert, mehr Sicherheitsvorkehrungen zu treffen und etwa eine Sicherheitsschleuse beim Eingang einzubauen. Jetzt sind sie dazu gezwungen worden, aber das hat zwölf Menschen das Leben gekostet und zwölf Familien zerrüttet“, sagt die 72-jährige Schriftstellerin. Vergangene Woche sind die Redakteure der Satirezeitung in ihre neues Hochsicherheitsbüro umgezogen. Die Adresse im Süden von Paris ist geheim, die neuen Redaktionsräume verfügen über einen Panikraum sowie eine Sicherheitsschleuse beim Eingang und werde ständig von der Polizei bewacht.
Kann Frankreich also gar nicht anders, als es den „Charlie Hebdo“-Redakteuren gleich zu tun und auf die Bedrohung mit mehr Sicherheit und weniger Freiheit zu antworten? Auch Maryse Wolinski, die diesen Gedanken wohl schon hundertmal in ihrem Kopf durchgespielt hat, tut sich mit der Antwort sichtlich schwer. „Hören Sie, ich hoffe, dass das Geheimdienstgesetz nicht durchgeht und es der europäische Gerichtshof wieder kippt“, sagt sie schließlich nach langem Zögern. „Denn wenn wir die Meinungsfreiheit einschränken, dann tun wir doch genau das, was die Terroristen von uns wollen.“