Was war und was wahr war
Drago Jancars „Die Nacht, als ich sie sah“ ist ein bewegender Roman über bewegte Zeiten.
Von Ivona Jelcic
Innsbruck –„Wir leben in einer Zeit, wo man nur Menschen respektiert, seien sie lebendig oder tot, die bereit waren zu kämpfen, sich für die gemeinsamen Ideen sogar zu opfern. So denken beide Seiten, Sieger wie Besiegte“: Es ist ein Arzt der deutschen Wehrmacht, dem Drago Jancar diese Worte quasi als Erkenntnis-Beichte in den Mund legt. Als Rechtfertigung für die Gräuel des Krieges taugen sie kaum, aber sie können auch von anderen gesagt worden sein. Einer der einstigen Tito-Partisanen aber wird es später anders, vielleicht erkenntnisreicher formulieren: „Da haben wir wohl Scheiße gebaut“ – dann muss aber auch gut sein mit den alten Geschichten. Wieder ein anderer ist fern einer Bewertung, aber die Tatsache, dass der junge König in einem Londoner Park spazieren geht, während seine Armee von den britischen Besatzern kontrolliert wird, stimmt ihn doch ein wenig nachdenklich. Es ist die Stimme von Stevan Radovanovic, Kommandeur einer Kavallerie-Schwadron der jugoslawisch-königlichen Armee, die Drago Jancar an den Beginn dieses aus fünf Erzählperspektiven gebauten Romans stellt.
In ihrem Mittelpunkt: Veronika Zarnik, junge Dame der besseren Gesellschaft, freiheitsliebende Besitzerin eines Pilotenscheins, Exzentrikerin, die man schon mit einem Alligator an der Leine durch Ljubljana promenieren sah. Alle verehren sie, einer verrät sie, dann verschwindet sie.
Eine wahre Begebenheit – die Verschleppung einer slowenischen Schlossherrin und ihres Gatten durch Partisanen im Jahr 1944 – liegt diesem Roman zugrunde, der sich mit weit mehr als dem einzelnen Schicksal auseinandersetzt. Vielmehr dringt der Autor ins Geschichtsbewusstsein nicht nur seiner Landsleute, sondern von Nachkriegsgesellschaften im Allgemeinen. Abgründe und Unschärfen gibt es da genug, in Slowenien gerade auch was den Mythos vom gerechten und damit untadeligen Partisanenkampf gegen den Faschismus betrifft.
Eindeutige Antworten aber erhält man – es lässt sich erahnen – zunächst auch über den Verbleib von Veronika Zarnik nicht. Aber Erinnerungen: des Kavalleristen, mit dem sie einst durchbrannte, des NS-Arztes, der Mutter, der Haushälterin, des Partisanen. Jede ist ihre eigene, persönliche, ideologisch verbrämte, vielleicht geschönte Wahrheit, die der Autor mit großem Gespür für den jeweiligen Tonfall ausstattet. Daraus ergeben sich ein faszinierendes Zeitporträt und ein vielschichtiger literarischer Beitrag zum Thema Vergangenheit und Verantwortung.
Roman Drago Jancar: „Die Nacht, als ich sie sah“. Aus dem Slowenischen von Daniela Kocmut und Klaus Detlef Olof, Folio Verlag, 188 S., 19,90 Euro.