Deutscher Buchpreis - Jenny Erpenbeck und ihr Buch der Stunde
Frankfurt am Main (APA/dpa) - Mit ihrem Roman „Gehen, ging, gegangen“ hat Jenny Erpenbeck (48) in Deutschland so etwas wie das Buch der Stun...
Frankfurt am Main (APA/dpa) - Mit ihrem Roman „Gehen, ging, gegangen“ hat Jenny Erpenbeck (48) in Deutschland so etwas wie das Buch der Stunde vorgelegt. Das Buch erzählt eine berührende Geschichte über die Asylbewerber vom Oranienplatz in Berlin-Kreuzberg und orientiert sich an den Fakten.
Die Autorin und Regisseurin Jenny Erpenbeck wurde am 12. März 1967 in Ost-Berlin geboren. Ihre Eltern sind der Philosoph und Romanautor John Erpenbeck sowie die Arabistin und Übersetzerin Doris Kilias. Nach einer Buchbinderlehre studierte Jenny Erpenbeck in Berlin Theaterwissenschaft (1988 bis 1990) und Musiktheaterregie (1990 bis 1994). Nach Regiearbeiten am Opernhaus in Graz und in Berlin debütierte sie 1999 als Schriftstellerin mit der Novelle „Geschichte vom alten Kind“. Es folgten weitere Romane, Erzählungen und Theaterstücke. Für die Erzählung „Sibirien“ erhielt sie 2001 beim Ingeborg-Bachmann-Wettlesen in Klagenfurt den Preis der Jury.
Ihr Roman „Heimsuchung“ (2008) über das Haus ihrer Großmutter in Brandenburg thematisiert Flucht und Vertreibung anhand der eigenen Familiengeschichte. Ihr aktuelles Werk „Gehen, ging, gegangen“ ist ein Roman über Flüchtlinge und Asylbewerber der Gegenwart.
Im Herbst 2012 besetzten Flüchtlinge den Oranienplatz. Sie kamen aus anderen Teilen Deutschlands und kämpften mit der Besetzung für ihr Bleiberecht. Erst nach eineinhalb Jahren wurde das Camp nach einer Vereinbarung mit dem Senat geräumt, das Verfahren der Flüchtlinge geprüft. Doch am Ende erhielt so gut wie niemand von ihnen eine Aufenthaltserlaubnis.
Im Roman trifft der Altphilologe Richard eher zufällig auf die Männer vom Oranienplatz. Er selbst befindet sich gerade in einer Sinnkrise. Seine Frau ist gestorben und nach seiner Emeritierung weiß er nicht so recht, was er mit seiner vielen Zeit anfangen soll. In den Afrikanern sieht er zunächst ein interessantes Studienobjekt. Richard will so viel wie möglich über das Schicksal dieser Männer und ihre fremde Lebenswelt erfahren. Doch es wird auch zu einer Erkundungsreise in ein unbekanntes Deutschland und den Dschungel des Asyl-Systems. Die Männer aus Nigeria, Mali oder Niger, denen Richard so poetische Namen wie Apoll, Tristan oder der Olympier gibt, haben mit einem mehr als prosaischen Alltag zum kämpfen. Fast alle haben zuvor in Libyen gearbeitet. Bis sie nach dem Sturz Gaddafis mit Gewalt aus diesem Land vertrieben wurden und übers Meer flohen. Weil sie in Italien als erstes registriert wurden, können sie auch nur dort Asyl beantragen. Berlin, Deutschland - leider nicht zuständig.
Das Schicksal dieser Männer steht stellvertretend für die schizophrene Situation vieler Flüchtlinge: Da sich niemand für sie zuständig fühlt und die Verantwortlichkeit hin und her geschoben wird, müssen sich die Asylsuchenden schließlich selbst helfen. Sie sind Menschen mit einer ausgelöschten Vergangenheit und ohne Zukunft, gefangen im Warteraum des Lebens. Nicht zufällig hat Jenny Erpenbeck als Protagonisten ihres Romans einen „Ossi“ mit Brüchen und Neuanfängen in seiner Biografie gewählt. Denn auch Richard, das Kriegskind, gehörte einst durch puren Zufall zu den weniger Begünstigten dieser Welt. Aber er hatte zumindest die Chance eines Neustarts, die Flüchtlinge dagegen nicht. Das Smartphone ersetzt ihnen das Leben: „Ein Netz aus Zahlen und Kennwörtern spannt sich quer über die Kontinente und ersetzt ihnen nicht nur das, was für immer verloren gegangen ist, sondern auch den Neuanfang, der nicht stattfinden kann. Das, was ihnen gehört, ist unsichtbar und aus Luft.“
Jenny Erpenbeck hat ihren Roman mit Herzblut geschrieben. Sie setzt mit ihm ein starkes Zeichen. Für mehr Empathie und gegen herzlose Bürokratie.
(S E R V I C E - Jenny Erpenbeck: „Gehen, ging, gegangen“, Knaus Verlag, 352 S., 20,60 Euro)