Im Jungel von Calais - Traum von England gegen alle Widerstände

Calais (APA) - „An Österreich kann ich mich noch gut erinnern, wir haben eine ganz Nacht auf der slowenischen Seite der Grenze verbracht und...

Calais (APA) - „An Österreich kann ich mich noch gut erinnern, wir haben eine ganz Nacht auf der slowenischen Seite der Grenze verbracht und ‚open the border!‘ geschrien“, sagt der Iraker Haidar. Das war vor gut drei Wochen. Mittlerweile hat er es in den äußersten Norden Frankreichs geschafft. Nach Calais, Sehnsuchtsort vieler Flüchtlinge, weil es für sie das Tor nach England darstellt. Und zugleich jener Punkt, an dem viele Träume zerbrechen, weil die Grenze nach Großbritannien meist verschlossen bleibt.

Gerade erst ist Haidar mit zwei Freunden im Zentrum von Calais aus dem Zug gestiegen. Der Eingang des Eurotunnels, der die nordfranzösische Stadt mit dem englischen Folkstone verbindet, liegt rund 10 Kilometer westlich.

Für viele Flüchtlinge führt der erste Weg aber in die entgegengesetzte Richtung. In den „Jungel“, ein riesiges Flüchtlingscamp aus Zelten und selbst zusammengezimmerten Baracken. Seitdem der damalige Innenminister und spätere Präsident Nicolas Sarkozy 2002 auf Druck seines britischen Amtskollegen das Lager in Sangatte direkt neben dem Eingang des Ärmelkanaltunnels geschlossen hat, ist das Camp der einzige Ort, an dem Flüchtlinge zumindest geduldet werden. An anderen Plätzen - vor allem im Stadtzentrum - vertreibt sie die Polizei regelmäßig.

Der „Jungel“ liegt sechs Kilometer östlich des Stadtzentrums, am Rande eines Industriegebietes und direkt neben der Autobahn in Richtung Hafen und Eurotunnel. Wenn sich auf der Autobahn die Lkw stauen, versuchen viele Flüchtlinge bereits hier aufzuspringen. Deshalb setzte die französische Polizei zuletzt immer wieder Tränengas gegen die Menschen ein, was ihr unter anderem die Kritik der französischen Menschenrechtskommission einbrachte.

Die ersten paar Kilometer in Richtung des Camps gibt es noch eine Busverbindung. Wenn die meist jungen Männer dann in einem beschaulichen Wohngebiet mit niedrigen Häusern und kleinen Vorgärten aus dem Fahrzeug steigen, wirkt das doch irgendwie merkwürdig. Nicolas, der schon seit mehr als 30 Jahren direkt neben der Busstation „Les Dunes“ lebt, schimpft auch prompt über die arabische Musik aus dem Handylautsprecher eines Burschen. Eigentlich gebe es aber keine Probleme mit den Flüchtlingen, sagt er. Er habe sich an die vielen jungen Männer gewöhnt, die täglich an seinem Haus vorbeikämen. „Ja, anfangs habe ich Angst gehabt, sie könnten stehlen oder Schlimmeres, aber passiert ist eigentlich nie etwas.“

Aus dem Bus gestiegen sind auch der 25-jährige Iraner Said und sein älterer Freund Ali. In der Nacht haben sie einmal mehr versucht, auf Lastwagen versteckt, durch den Ärmelkanaltunnel zu kommen. „Immer wieder habe ich es probiert, aber jedes Mal hat mich die Polizei wieder heruntergeholt“, erklärt der Jüngere.

Er habe Architektur studiert, fügt Said hinzu. Bis ihn die Polizei mit „einem Auto voller Alkohol“ - der im Iran verboten ist - erwischt habe. Nun drohe ihm eine Gefängnisstrafe. Seit gut zwei Monaten sei er nun in Calais, „sicher 70 Mal“ habe er versucht, durch den Tunnel zu kommen, erzählt der Iraner und zeigt dabei seine von kleinen Narben übersäten Hände: „Die sind vom Zaun“.

Um Menschen wie Said und Haidar davon abzuhalten, nach England zu gelangen, hat die Betreibergesellschaft „Eurotunnel“ erst kürzlich wieder die Sicherheitsmaßnahmen rund um den Tunneleingang erhöht. Das Gelände ist nun von einem vier Meter hohen Zaun umgeben. Finanziert werden die Absperrungen ebenso wie die diensttuenden Polizisten auf Grundlage eines 2003 abgeschlossenen und kürzlich aktualisierten Vertrages auch von London, das Paris 2014 insgesamt 15 Millionen Euro für die nächsten drei Jahre versprach. Ist es doch vor allem im Interesse der dortigen Behörden, dass die Flüchtlinge in Frankreich bleiben.

Nacht für Nacht holt die Polizei hunderte Menschen von Lastwagen. Immer wieder versuchen Menschen aber auch zu Fuß den rund 35 Kilometer langen Tunnel zu passieren. Wieviele es auf die andere Seite schaffen, weiß niemand. Fest steht, dass es sich um eine gefährliche Grenze handelt. Bereits 13 Menschen starben seit Jahresanfang beim Versuch nach Großbritannien zu gelangen.

Auch der Iraner Said wird es wieder probieren, sagt er. „Solange bis ich es schaffe. Ich muss nach England, das ist ein gutes Land für mich“, fügt er hinzu. „In Frankreich bekomme ich kein Asyl und auch in Österreich würde ich keines bekommen.“ Was er nicht sagt: Dasselbe gilt für Großbritannien. Allerdings ist es dort wesentlich leichter, auch ohne Papiere, Arbeit und Unterkunft zu finden.

Andere haben es schon zu oft versucht, und sind mittlerweile müde geworden, es immer und immer wieder zu probieren. So auch ein junger Afghane, der seinen Namen „C-H-O-N“ buchstabiert, aber vielleicht auch anders heißt. Seit zwei Jahren ist er in Calais. Jetzt steht er neben einem für den „Jungel“ überdurchschnittlich großem Stück Land, auf dem in die Erde gerammte Holzpfähle schon die Umrisse eines Hauses erkennen lassen. Wozu er so viel Platz braucht? „Ich baue ein Restaurant. Jetzt ist es noch warm“, sagt er unter strahlend blauem Himmel, „aber bald wird es kalt. Und dann wird es jeden Abend voll sein.“

Tatsächlich hat sich im Camp eine bemerkenswerte Infrastruktur und Organisation entwickelt. Die fast 4.000 Bewohner des Lagers leben nach Nationalitäten unterteilt: Es gibt ein iranisches Camp, ein eritreisches, ein afghanisches,... Einen Teil der Infrastruktur trug die Hilfsorganisation „Medecins du Monde“ (Ärzte der Welt, eine Abspaltung von Ärzte ohne Grenzen) bei, die Toiletten aufstellte, Wasserleitungen legte und eine notdürftige medizinische Versorgung sicherstellt. Vieles wurde von den Bewohnern aber selbst gebaut: Geschäfte, Restaurants und auf manchen Bretterbuden ist sogar der Schriftzug „Hotel“ zu lesen.

Neben dem „Afghan restaurant and hotel“ sitzt Omar, der noch keine 20 Jahre alt ist. Auf die Frage, wo man hier denn schlafen könne, führt er ein paar hundert Meter weiter den völlig verschlammten Weg entlang und zeigt auf ein großes, weißes Zelt. Wieviel die Nacht kostet, will Omar nicht sagen. Schlecht scheint das Geschäft jedoch nicht zu gehen, bereits wenige Minuten später tauchen zwei junge Neuankömmlinge auf und fragen nach einem Schlafplatz.

In Abwesenheit des französischen Staates hat sich hier eine Parallelökonomie entwickelt und nicht allen ist es Recht, wenn Fremde zu viele Fragen stellen. „Was wollen Sie denn hier“, fragt ein rund 40-Jähriger mit einem großen Pflaster voller Eiter am Hals. „Wenn Sie aus Österreich kommen, dann bleiben Sie doch dort. Dort ist doch alles gut. Das hier ist für Flüchtlinge.“

Was auffällt, ist die völlige Abwesenheit von Frauen und Kindern. „Doch, doch, es sind auch Frauen hier - und Kinder“, sagt der Iraner Said. „Aber sie sind weiter hinten im Lager, da, wo wir Besucher bitten, nicht hinzugehen.“ Tatsächlich muss man den ganzen „Jungel“ durchqueren, um rund um das frühere Kinderfreizeitzentrum „Jules Ferry“ Frauen und Kinder anzutreffen. Hier verteilen wechselnde Hilfsorganisationen täglich ein warmes Mittagessen.

Bereits jetzt bietet das einzige gemauerte Haus im Camp zudem gut 110 Frauen und Kindern Unterkunft. Vor dem Winter sollen noch einmal rund 100 Plätze dazukommen, kündigte die Präfektin der Region, Fabienne Buccio, kürzlich an. Ebenfalls vor dem Winter sollen rund um das Zentrum Container und Zelte für 1.500 Flüchtlinge aufgestellt werden, wie Premierminister Manuel Valls bei einem Besuch Ende August mitteilte.

Mit fünf Millionen von der EU kofinanziert, sollen die neuen Unterkünfte die katastrophalen humanitären and hygienischen Zustände im „Jungel“ verbessern helfen. Dennoch stehen lokal Hilfsorganisationen dem Projekt skeptisch gegenüber. Sie befürchten, aufgenommen könnten nur jene werden, die in Frankreich auch einen Asylantrag gestellt hätten - bisher die Minderheit der Campbewohner.

(Entstanden im Rahmen des Projekts „eurotours“ vom Bundespressedienst. Die Reise wurde aus Mitteln des Kanzleramts finanziert.)