Ist Österreichs Absandeln aufzuhalten?
Einst bildete das päpstliche Wort von der „Insel der Seligen“ eine Art von Daseinsbeschreibung unseres Landes. Heute würde das Land wohl keiner mehr so betiteln.
Von Lothar Müller
Es gibt in diesem Jahr etliche nationale Erinnerungspunkte. 70 Jahre Ende des Zweiten Weltkriegs und Befreiung Österreichs von der Naziherrschaft. 1955 – „Österreich ist frei.“ 1995 Betritt des Landes zur Europäischen Union. Und dazwischen (1971) ein Papst, der unser Land eine „Insel der Seligen“ genannt hat. Paul VI., danke im Nachhinein!
Es war sicher ein bisschen „sehr gut gemeint“ und ein Treffen mit einem Bundespräsidenten geht ja meistens freundlich vor sich.
Heute nennt uns eigentlich niemand mehr eine Insel der Seligen. Nicht einmal wir selbst. Die Zahl der Arbeitslosen steigt, die der Armen und Armutsgefährdeten geht nicht und nicht zurück, eine Zweiklassenmedizin ist keineswegs mehr bloße Befürchtung und die Unis hadern mit Rankings. Dies neben explodierenden Wohnkosten, den zukünftigen Pensionen teilzeitbeschäftigter Frauen und rechtloser junger PraktikantInnen und einer sehr bescheidenen Klimaschutzbilanz – usw.!
Sandelt Österreich also wirklich ab? Und wie treten wir „frau- und mannhaft patriotisch“ einem solchen Trend entgegen?
Parteiprogramme und Praxis: einfach zum Weinen!
Die offiziell durch die Parteien formulierte und formal beschlossene Politik leidet an mehreren gravierenden Schwächen. Ginge es nach ihren eigenen Programmen, dann wäre Österreich die „Insel der Seligen Nummer 1“. In „humanitärer Verantwortung“ (FPÖ-Programm), beim leistbaren Wohnen (ÖVP) oder bei der „Entwicklungspolitik als ein Gebot internationaler Solidarität“ (SPÖ). Die Praxis der früheren und aktuellen Regierungsparteien schert sich überhaupt nicht um ihre schönen Programme. „Seligmachend“, so meinen sie, sei nicht konstruktive Meinungsbildung und ethisch überzeugende Führungsqualität, sondern Anpassung an die jeweiligen Realitäten bzw. eigenen Erfolgsaus-sichten.
Sie wollen nicht mehr Wirkung, sondern nur noch quantitativen Erfolg.
Und so ist es bei der Flüchtlingsfrage bei der FPÖ, wie es ist. Bei der Frage des höchst notwendigen neuen Mietrechts bei der ÖVP zulasten der Mieter so, wie es ist. Und bei der seit Jahrzehnten eingemahnten Erhöhung der Mittel für die Entwicklungszusammenarbeit bei der SPÖ so, wie es ist. Komme keiner mit Kompetenzen! Diese wären am einfachsten zu lösen. Es sei denn, man will sich hinter diesen verstecken.
Mitverantwortung der Partei-funktionärInnen
Wir haben jetzt einmal die – eigentlich unerträgliche – Distanz zwischen schöner Theorie und geübter Praxis. Dabei erhebt sich schon die wiederum ethische Frage, warum diese Distanz nicht schon innerhalb der Parteien deutlich angesprochen wird. Sind etwa auch die VertreterInnen der Basis mit dem Über-Bord-Werfen der Grundsätze einfach einverstanden? Dabei ist es ja nicht so, dass es in den Parteien nur um Karrieren, bessere Jobs oder öffentliche Anerkennung geht! Dort sind Menschen wie du und ich tätig, mit Stärken und Schwächen, mit mehr oder weniger Idealismus. Aber: Sie haben als FunktionärInnen schon eine besondere politische Verantwortung!
Kompromisse können nieder-trächtig werden
Neben dieser Distanz zwischen eigenen Programmen und selbst zu verantwortender Praxis kennen wir in Österreich auch das Phänomen des Kompromisses bestens. An und für sich nichts Schlechtes, solange es um fairen Ausgleich von Interessen unter Berücksichtigung der Zukunft geht. Aber er kann auch „niederträchtig“ werden, wie es der frühere Österreich-Korrespondent der renommierten Süddeutschen Zeitung, Michael Frank, in einem TT-Interview gesagt hat. Er wird dann niederträchtig, wenn es um das existenzielle Schicksal jener Menschen geht, die finanziell ganz unten sind. Wir wissen genau, was die realen Einkommensverluste – 14 Prozent seit 1998 – für diese Menschen und ihre Kinder bedeuten. Wir wissen ebenso genau, was für diese Menschen, MitbürgerInnen (!) die explodierenden Mietkosten bedeuten. Und wir wissen genau, was unser lockerer Umgang mit den natürlichen Ressourcen, mit Emissionen usw. für unsere Nachkommen bedeutet. Hier werden Kompromisse unverantwortlich!
Hier muss einfach über den Schatten auch des eigenen kurzfristigen Vorteils gesprungen werden – das sei in memoriam Erwin Ringel gesagt.
Er hat die „österreichische Seele“ sehr gut analysiert. Mit dem hellen, für Einladungen gedachten Zimmer und mit dem zweiten, dem dunklen und verschlossenen.
„Ich kann nicht anders“
Mit diesem Wissen kann es nur heißen: „Hier stehe ich, ich kann nicht anders.“ Und selbst wenn ich eine Wahl verliere. Gilt ebenso bei der Einhaltung der Flüchtlingskonvention, bei der Verteidigung der Menschenrechte oder des Rechtsstaates. Hans R. Klecatsky, früherer Justizminister und anerkannter Öffentlichrechtler hat uns als letzten Wunsch mitgegeben: Achtet auf die Menschenrechte! Und unvergesslich Altbischof Reinhold Stecher – wenn man mit ihm nur in die Nähe der Innsbrucker Herrengasse (in der Nazizeit Sitz der Gestapo) gekommen ist: „Wenn du da drinnen warst, dann hat es kein Recht mehr für dich gegeben.“
Was ist so hart als Opposition?
So, und jetzt verlieren wir eine Wahl. Weil wir stur und konsequent an den eigenen Werten festgehalten haben. Und was ist jetzt hin? Die Presse spricht von „harten Oppositionsbänken“. Sind die in einer funktionierenden parlamentarischen Demokratie wirklich „so hart“? Wer verbietet es denn einem Abgeordneten auch der Opposition, in seinem Wahlkreis höchst engagiert tätig zu sein? Wer verbietet ihm oder ihr, mehr zu tun, als nur in vorformulierten Reden oder Presseaussendungen aufzufallen? Niemand! Niemand! Und er oder sie verdient auch keinen Cent weniger als „Koalitionsabgeordnete“. Und keiner, weder Minister noch Landeshauptmann oder Bürgermeister kann ihn oder sie bremsen! Wenn er oder sie nur bereit ist, hartnäckig an den zweifellos dicken Brettern zu bohren.
Christliches Abendland: auch Feindesliebe mit drin!
Ein Theologe darf nochmals auf einen Papst zurückkommen. Auf Franziskus, den derzeitigen. In seiner Umweltenzyklika „Laudato Si“ schreibt er, „dass wir immer fruchtbarer sind, wenn wir uns mehr darum kümmern, Prozesse auszulösen, als Räume der Macht zu beherrschen“ (126). Nach Grundsätzen handeln und an das langfristige Gemeinwohl denken, auch wenn man dafür einen hohen Preis zahlen muss. Es ist also so weit!
Und wenn der Innsbrucker Bischof Manfred Scheuer in einem Interview zu seinem neuesten Buch von „klaren Anweisungen“ des Evangeliums spricht, dann wissen wir: Es geht um die Ebenbildlichkeit aller Menschen und damit auch um deren Gleichbehandlung, um Gottes-, Nächstenliebe und auch die Feindesliebe. Die Feindesliebe, zu der Erich Fried sagt: „Wer denkt, dass die Feindesliebe unpraktisch ist, der bedenkt nicht die praktischen Folgen des Feindeshasses.“ Ein Thema für jene, die jetzt wieder über Ausgrenzung und „notwendige Gewalt“ reden. Und dabei das „christliche Abendland“ beschwören. Aber auch ein Thema für eine längst notwendige Profilierung der Vermittlungspolitik eines neutralen Staates! Übrigens – kirchenkritisch! Das aufgetragene Gebot auch der Feindesliebe sei bereits im 2.Jahrhundert als ein nur von wenigen erreichbares Vollkommenheitsideal quasi abgeschafft worden.
Österreich – für dich springen wir über unsere Schatten
Nach vielen Jahren der, ja, Gemütlichkeit, des Wohlergehens kommt jetzt eine härtere, robustere Zeit. Wir können sie schaffen. Allerdings nur mit Zusammenhalt und dem Springen über die Schatten kurzfristiger Erfolge.