Bilder über den Verlust der Würde in Kriegszeiten
Elchin Musaoglu erzählt in „Nabat“ vom Ausbruch des Krieges zwischen Armenien und Aserbaidschan und seinen ersten Opfern.
Von Peter Angerer
Innsbruck –Das Dorf, in das Nabat (Fatemeh Motamed Arya) jeden Morgen die Milch ihrer Kuh in zwei Gläsern schleppt, befindet sich in Auflösung. Eigentlich gibt es keinen Bedarf mehr für Nabats Milch, denn die Jungen sind längst in die Stadt gezogen, demnächst werden auch die Alten evakuiert. Mit dem Hall des Kanonendonners rollt der Krieg von den Bergen. Die alte Bäuerin verlangt – vorerst aus unbekannten Gründen – die Fotografie ihres Sohnes vom Bürgermeister zurück. Der verweist auf den Fotografen, doch man hat das Bild einfach verschlampt. Niemand bemerkt, wie Nabat über diesen Verlust die Würde abhandenkommt.
Nabat. Ab 12 Jahren. Ab Freitag in Innsbruck: Leokino.
Nachdem Armenien und Aserbaidschan 1991 ihre Unabhängigkeit von der Sowjetunion erreicht hatten, verlangte die armenische Bevölkerungsmehrheit von Bergkarabach die Abspaltung von Aserbaidschan. Dieser Forderung folgte 1992 der Einmarsch armenischer Truppen, die in einem zwei Jahre dauernden Krieg eine Million Menschen vertrieben. Dieser Krieg kostete bis 1994 – von der Welt neben anderen Konflikten beinahe unbemerkt – etwa 25.000 Menschen das Leben. Eines der ersten Opfer war Davud, Nabats Sohn.
Die frische Erde auf Davuds Grab und die in groben Stein gemeißelte Jahreszahl 1992 sind die einzigen Orientierungshilfen, die Zeit der Handlung zu datieren. Im kargen und einige Kilometer vom Dorf entfernt liegenden Hof pflegt Nabat ihren Mann Iskender (Vidadi Aliyev), der Sterbende verlangt nach dem Mullah, der aber hat wie die anderen das Dorf verlassen. Daher ist auch die Kuh die einzige Zeugin, als die Frau neben dem Grab ihres Sohnes in einer Gewitternacht mit einem Pickel den steinigen Boden aufhackt, um ihren Mann beerdigen zu können. Obwohl die Kuh keine Milch mehr gibt, bleibt Nabat bei ihren Gewohnheiten. Jeden Tag wandert sie in das Dorf, stöbert in den verlassenen Häusern nach Erinnerungen. Sie entzündet die Petroleumlampen, um in der Nacht aus der Entfernung die Illusion von Normalität und Leben zu haben. Nach dem Verschwinden der Kuh gibt es nur noch einen Wolf, der ihr in der Einsamkeit mit freundlicher Neugier begegnet.
Die Metapher des letzten Menschen auf der Welt kommt im Kino selten ohne tierischen Begleiter aus. In „I Am Legend“ über den letzten Überlebenden auf der Erde ist es ein Schäferhund, in „Die Wand“ nach Marlen Haushofers gleichnamigen Roman ist es ein bayerischer Gebirgsschweißhund, der mit einer Frau die Gefangenschaft hinter einer unsichtbaren aber bei Berührung wummernden Wand teilt. Mehr als den Wolf hat Nabat aber mit dem Soldaten John Dunbar in „Der mit dem Wolf tanzt“ gemeinsam, der sich im Niemandsland zwischen den Kulturen der weißen Eroberer und der bedrohten Indianer verliert.
„Nabat“ ist schwerer zu lesen, da der als Dokumentarfilmer bekannt gewordene Regisseur Elchin Musaoglu Nabats Leidensweg über Symbole erzählt und irgendwann die Perspektive des Wolfs übernimmt. Während das Tier in einer Höhle immerhin drei Welpen versorgt, hat Nabat nur zwei Gräber. „Nabat“ dauert zwar nur 100 Minuten, die Bilder über den Wert und die Würde eines Menschen bleiben für Tage im Kopf.