Timothy Snyder: Zerstörung der Staatsgefüge ermöglichte Holocaust

Wien (APA) - Für Timothy Snyder ist der Holocaust nicht alleine durch Antisemitismus erklärbar. „Die Zerstörung staatlicher Strukturen ist d...

Wien (APA) - Für Timothy Snyder ist der Holocaust nicht alleine durch Antisemitismus erklärbar. „Die Zerstörung staatlicher Strukturen ist dabei ein ganz wesentlicher Faktor gewesen“, sagte der US-Historiker heute, Mittwoch, Abend, bei der Vorstellung seines Buches „Black Earth. Der Holocaust und warum er sich wiederholen kann“ (Deutsche Verlags Anstalt) im Wien Museum.

„Es ist wichtig zu wissen, dass 97 Prozent der Juden, die im Holocaust getöten wurden, nicht in Deutschland gelebt haben. Der Holocaust ist ein Ereignis, das vor allem außerhalb Deutschlands passiert ist“, sagte der 46-jährige Yale-Professor, dessen 2011 auf Deutsch erschienene Untersuchung „Bloodlands. Europa zwischen Hitler und Stalin“ über die nationalsozialistischen und stalinistischen Massenverbrechen im Europäischen Osten Aufsehen erregt hatte.

Bei der Präsentation im Wien konzentrierte er sich auf die Kernthese seiner neuer Arbeit: Die Massenvernichtung hatte die vorherige Zerstörung der geregelten Staatsgefüge zur Voraussetzung. So erklärt Snyder die großen Unterschiede in der Radikalität der Durchführung des Holocaust in Ländern wie Dänemark, Estland oder der Ukraine.

Für den Permanent Fellow am IWM, dem Wiener Institut für die Wissenschaften vom Menschen, ist so auch der pogromartige Gewaltausbruch gegen Juden im Zuge des „Anschluss“ Österreichs an Hitler-Deutschland zu erklären. „Dies war möglich, weil der österreichische Staat von einem Tag auf den anderen aufhörte zu existieren.“

Snyder erinnerte auch daran, dass viele Juden das Wort „Österreich“ von den Straßen schrubben mussten: „Das diente nicht nur zur Erniedrigung, sondern sie wurden mit dem alten Regime identifiziert.“ Im Zuge des Überfalls auf die Sowjetunion seien ebenfalls Juden zu Sündenböcken gemacht worden, „obwohl sie für den Kommunismus genauso wenig verantwortlich waren wie für Österreich“.

In der Diskussion mit den Historikern Philipp Ther vom Institut für Osteuropäische Geschichte der Universität Wien und Dirk Moses von der Europäischen Universität Florenz kam Snyders umstrittenste These erst ganz zum Ende zur Sprache: Im Schlusskapitel versucht er davor zu warnen, dass der Holocaust keine einzigartiges Verbrechen in der Geschichte der Menschheit bleiben werde, wenn man sich nicht bewusst mache, wie sehr eine Auflösung von gesicherten staatlichen Strukturen und eine Angst vor einer nahenden ökologischen Katastrophe ihm den Weg geebnet habe. Als Beispiele nannte er u.a. den Verlust der staatlichen Ordnungen in Syrien und den Irak oder die herrschende Hegemonial-Politik von China in Afrika oder Russland gegenüber der Ukraine. „Diese Dinge hängen alle zusammen.“

Dieser warnende und prophetische Schluss von „Black Earth“ ist in deutschsprachigen Medien zum Teil äußerst kritisch besprochen worden. „Enttäuschend und abstrus sind die Teile, in denen Snyder ‚theoretischer‘ wird, die Frage nach den Gründen des Holocaust beantworten und die Behauptung plausibel machen will, dass das Ungeheuerliche sich wiederholen kann“, hieß es etwa in der „NZZ“, die bei Snyder „eine abenteuerliche Analogie zwischen der ökonomischen und politischen Lage in den zwanziger und dreißiger Jahren des vorigen Jahrhunderts einerseits und den aktuellen Herausforderungen durch den Klimawandel“ ortete. „Snyder will vor der Wirkmächtigkeit endzeitlicher Untergangsvisionen in der Politik warnen und liefert selbst eine“, schrieb die „FAZ“. In Wien gab es nach der Diskussion und vor der Autogrammstunde herzlichen Applaus für den Historiker.

(S E R V I C E - Timothy Snyder: „Black Earth. Der Holocaust und warum er sich wiederholen kann“, C.H. Beck, Aus dem Englischen von Ulla Höber, Karl Heinz Siber und Andreas Wirthensohn. 488 S., mit 24 Karten. 29,95 Euro)