Juncker umgeht Tusk - Balkan-Sondergipfel zeigt EU-Führungsdilemma
Brüssel (APA) - Der wegen der dramatisch steigenden Flüchtlingszahlen auf der Balkanroute einberufene Sondergipfel, zu dem EU-Kommissionsprä...
Brüssel (APA) - Der wegen der dramatisch steigenden Flüchtlingszahlen auf der Balkanroute einberufene Sondergipfel, zu dem EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker für Sonntag elf Regierungschefs nach Brüssel geladen hat, legt das Führungsdilemma der EU in diesen Tagen offen. Zuständig für Gipfel der Staats- und Regierungschefs wäre eigentlich EU-Ratspräsident Donald Tusk, der nun von Juncker umgangen wurde.
Auch Tusk ist zu dem informellen Spitzentreffen am Berlaymont-Sitz der EU-Kommission eingeladen. Der Ratspräsident gerät wegen seines zögerlichen Ansatzes in der Flüchtlingskrise bei einigen Staaten allerdings zunehmend in die Kritik. So mancher wirft dem früheren polnischen Ministerpräsidenten hinter vorgehaltener Hand vor, noch immer die polnische Innenpolitik im Hinterkopf zu haben. Die polnische Regierung hat der Verteilung von insgesamt 160.000 Flüchtlingen in der EU nur widerwillig zugestimmt. Tusks regierender Bürgerplattform (PO) droht bei den Parlamentswahlen am Sonntag eine Niederlage.
Juncker und Tusk treten nach außen stets geschlossen auf. Doch schon beim EU-Gipfel im April - dem ersten zur Flüchtlingskrise - war zwischen beiden ein heftiger Streit über die vom Kommissionspräsidenten vorgeschlagenen verpflichtenden Quoten zur Verteilung von Asylwerbern in der EU entbrannt. Juncker stellte sich damals an die Seite des italienischen Ministerpräsidenten Matteo Renzi, der seine zögerlichen EU-Kollegen mit scharfen Worten kritisierte. „Wenn das Eure Idee von Europa ist, könnt Ihr es behalten, ohne Solidarität verschwendet Ihr unsere Zeit“, sagte Renzi damals. Italien werde die Flüchtlingskrise schon managen. „Wir machen es alleine.“
Damals hatte Juncker dafür geworben, die Verteilung von Flüchtlingen mit qualifizierter Mehrheit notfalls gegen den Widerstand einzelner Staaten durchzusetzen. Tusk wollte dagegen nur freiwillige und im Konsens aller 28 EU-Staaten beschlossene Quoten. Nach einem fünf Monate langem Streit unter den EU-Staaten wurden Tschechien, die Slowakei, Ungarn und Rumänien schließlich im September beim Beschluss der EU-Innenminister zur Verteilung von 120.000 Flüchtlingen überstimmt.
Doch jetzt, wo Deutschland, Slowenien, Österreich, Kroatien, Ungarn sowie Serbien und Mazedonien im Zentrum der Flüchtlingsströme stehen, wird der Missklang und die fehlende Abstimmung der EU-Staaten immer deutlicher. Ungarn hat sich mit Zäunen abgeschottet. Slowenien sieht sich durch den jüngsten Ansturm überfordert und beschuldigt den Nachbarn Kroatien, Flüchtlinge würden unangemeldet zur Weiterreise an die grüne Grenze gebracht.
„Es gibt Bedarf nach viel mehr Zusammenarbeit, mehr ausführlichen Gesprächen und unverzüglichen operativem Handeln“, heißt es in der Pressemitteilung der EU-Kommission. Ziel des Sondergipfels am Sonntag sei es, sich auf „gemeinsame operative Schlussfolgerungen“ zu einigen, die sofort umgesetzt werden sollen. Ergänzend hieß es in Kommissionskreisen, die Staaten müssten „raus aus der Situation, wo jeder sein eigenes Süppchen kocht“ und die Probleme nur auf die Nachbarn abwälzt. Juncker habe mit den meisten Akteuren gesprochen. Es sei notwendig, eine Struktur reinzubringen, womit die Staaten ihre Probleme hätten. Juncker habe es gewiss nicht nötig, sich persönlich zu profilieren.
„Juncker ist aufrichtig, er ist sicher ergriffen von den Bildern von tausenden Flüchtlingen, die in Slowenien gelandet sind“, sagte der frühere französische EU-Kommissar Michel Barnier dem EU-Observer. Nach dem EU-Vertrag leitet der EU-Ratspräsident Gipfeltreffen, doch ist es dem EU-Kommissionspräsidenten unbenommen auch zu Spitzentreffen einzuladen.
„Das Protokoll ist in diesen Momenten nicht wichtig. Hier gilt es, mit einem Notfall umzugehen“, sagte Barnier. Ein namentlich nicht genannter EU-Abgeordneter kritisierte gegenüber dem EU-Observer vor dem Kongress der Europäischen Volkspartei, bei dem der Kommissions- und der Ratspräsident am heutigen Donnerstag in Madrid aufeinandertreffen: „Tusk ist zu schlapp. Der Europäische Rat arbeitet nicht richtig. Wir haben ein echtes Problem in der Entscheidungsfindung. Juncker hat recht, den Stier bei den Hörnern zu packen.“
So gegensätzlich wie in ihrer Haltung zur Flüchtlingskrise sind Juncker und Tusk auch als Persönlichkeiten. Hier der alle umarmende Kommissionschef, der beim EU-Nachbarschaftsgipfel in Riga den Clown spielte, die Gäste an der Krawatte zog und Ungarns Premier Viktor Orban mit „Hallo Diktator“ begrüßte. Dort der scheue, reservierte und kühl auftretende Ratspräsident, der sich erst langsam und nach einem Crash-Kurs in Englisch als Ratspräsident ins Rampenlicht wagte.
Als beim EU-Gipfel vergangene Woche zur Flüchtlingskrise die Frage nach dem ersten tödlichen Grenzzwischenfall mit einem erschossenen Flüchtling in Bulgarien aufkam, war es Juncker, der sofort das Wort ergriff und antwortete, er sei nicht informiert und könne den Vorfall daher nicht kommentieren. „Wir sind mit Bulgarien“, versicherte Juncker seine Anteilnahme. Tusk fügte nur lapidar hinzu, Premier Bojko Borissow, habe ihn kurz über den Vorfall informiert und sei dann in seine Heimat abgereist. Der Vorfall zeige, wie wichtig die Gipfeldebatte sei. Darauf konterte Juncker mit einem Lachen in Richtung Tusk: „Du bist der Chef.“