Hitler und der Mufti - Netanyahu irritiert mit neuer Holocaust-These
Tel Aviv (APA/dpa) - Dina Porat kann nur noch ungläubig den Kopf schütteln. Mit der Behauptung, der Großmufti von Jerusalem habe Adolf Hitle...
Tel Aviv (APA/dpa) - Dina Porat kann nur noch ungläubig den Kopf schütteln. Mit der Behauptung, der Großmufti von Jerusalem habe Adolf Hitler zum systematischen Judenmord angestiftet, hat Israels Premier Benjamin Netanyahu einen internationalen Sturm der Empörung ausgelöst. Seitdem klingelt bei der Chefhistorikerin der israelischen Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem pausenlos das Telefon. „Es ist der blanke Wahnsinn“, sagt Porat. „Wir zerbrechen uns alle den Kopf, warum Netanyahu das gesagt hat.“
Ausgerechnet vor seinem Deutschland-Besuch hatte Netanyahu erklärt, der NS-Diktator habe zunächst nur die Vertreibung der Juden und keinen Massenmord an ihnen geplant gehabt. Der damalige palästinensische Großmufti Amin al-Husseini sei es dann gewesen, der Hitler zur systematischen Vernichtung der Juden drängte.
In sozialen Netzwerken tobt seitdem eine Debatte um die Äußerungen, durchzogen mit Parodien und Witzen über Netanyahu. Zu dessen Treffen mit der deutschen Kanzlerin Angela Merkel am Mittwoch schrieb eine Kommentatorin der Zeitung „Jediot Achronot“ tags darauf: „Es war surreal. Der israelische Regierungschef stand neben der deutschen Kanzlerin, und sie musste ihm erklären, dass die Verantwortung für den Holocaust weiterhin bei den Deutschen und nicht bei den Palästinensern liegt.“
Die These Netanyahus sei „eindeutig faktisch falsch“, betont Porat, die auch das Kantor-Zentrum für die zeitgenössische Geschichte der europäischen Juden an der Universität Tel Aviv leitet. „Daran gibt es überhaupt nichts zu rütteln.“
Von dem besagten Treffen Hitlers mit dem Großmufti am 28. November 1941 in Berlin gebe es ein vierseitiges Protokoll, erklärt die Historikerin. „Darin kommt nichts vor, das beweisen könnte, was Netanyahu gesagt hat - dass der Mufti Hitler angeblich die Idee für den Massenmord gab.“
Wie mehrere andere Historiker verweist auch Porat darauf, dass die Judenvernichtung durch die Nationalsozialisten und deren Helfershelfer schon vor dem Treffen Ende 1941 begonnen habe. „Der Zweite Weltkrieg war schon voll im Gange, Polen war erobert, die sogenannte Endlösung wurde schon betrieben. Das ist völlig eindeutig.“ Hitlers Obsession und sein Hass gegen die Juden habe schon während des Ersten Weltkriegs begonnen. „Es steht alles in seinem Buch „Mein Kampf“.“
Unumstritten ist, dass der 1895 in Jerusalem geborene Al-Husseini zu den erbittertsten Gegnern eines jüdischen Staates gehörte und sich in seinem Kampf gegen die Juden auf die Seite der Nazis schlug. Der Sohn einer einflussreichen arabischen Familie wurde 1921 von der britischen Mandatsmacht in Palästina zum Großmufti von Jerusalem ernannt, also zum obersten islamischen Geistlichen. Er gilt auch als einer der Drahtzieher blutiger Ausschreitungen gegen Juden in Palästina in den 1920er Jahren und musste später aus seiner Heimat fliehen. Trotz seiner Sympathien für Hitler und Nazideutschland ist Al-Husseini für viele Palästinenser bis heute eine Heldenfigur.
„Ich will den Mufti keineswegs zum Heiligen machen“ betont Porat. „Er war ein radikaler Antisemit und eine zentrale militante Figur.“ Al-Husseini habe Hitler bei dem Treffen davon überzeugen wollen, im Falle einer deutschen Eroberung von Palästina auch die dort lebenden Juden zu ermorden. Hitler habe sich von der Verbindung mit dem einflussreichen Großmufti die „Unterstützung und Sympathie der arabischen Bevölkerung“ bei einem deutschen Einmarsch erhofft.
„Netanyahu hat schludrig formuliert“, meint Porat. „Wenn er gesagt hätte, der Mufti wollte Hitler zum Massenmord an Juden im Nahen Osten anstiften, hätte es nur den halben Skandal gegeben.“
Das politische Kalkül hinter Netanyahus Äußerungen scheint aus Sicht der Experten eindeutig: Angesichts der jüngsten Welle der Gewalt mit täglichen Anschlägen von Palästinensern auf Israelis wolle er die Weltöffentlichkeit offenbar davon überzeugen, dass die Palästinenser die Juden in der Region nie akzeptiert haben und nie akzeptieren werden - mit oder ohne israelische Besatzung und Siedlungen.
„Netanyahu wollte zeigen, dass es in der Region eine Kontinuität des arabischen Hasses gegen Juden gibt, seit den Ausschreitungen in den 1920er-Jahren, über den Holocaust und bis heute“, sagt Porat. „In dem Punkt stimme ich ihm sogar zu. Es gibt gegenwärtig ein wüste Hetze der Palästinenserbehörde gegen Israel. Der Konflikt hat nicht nur etwas mit der israelischen Besatzung zu tun - das geht viel tiefer und ist auch religiös motiviert.“
Der israelische Historiker und Deutschland-Experte Moshe Zimmermann vermutet, Netanyahu wolle „die Palästinenser diskreditieren, damit er nicht mit ihnen verhandeln muss“. Wohl ohne es zu wollen, habe Netanyahu mit seinen Äußerungen Nazi-Deutschland und Hitler praktisch von der Schuld freigesprochen und sie den Arabern in die Schuhe geschoben. Palästinenserpräsident Mahmoud Abbas sagte, Netanyahu habe sein Volk „auf eine sehr erbärmliche Weise angegriffen“.
Der Holocaust-Überlebende Noah Klieger schrieb in der Zeitung „Jediot Achronot“ von einer „diabolischen Behauptung“ Netanyahus. Als Sohn eines anerkannten Geschichtsprofessors hätte der Regierungschef „es sich nie erlauben dürfen, solchen Unsinn zu reden“, argumentierte Klieger. „Ich kann nicht verstehen, was in Netanyahu gefahren ist, ausgerechnet vor seiner Reise nach Deutschland etwas so Geistloses zu sagen. Wollte er den Deutschen beweisen, dass die Araber die Juden schon immer töten wollten, lange bevor es überhaupt eine Besatzung gab?“