Zeitgeschichte fernab des Elfenbeinturms: Gerhard Jagschitz wird 75

Wien (APA) - Der Elfenbeinturm muss fallen: Egal ob als Mahner der aktuellen Politik, als Sammler von Bildern und Lebensgeschichten oder als...

Wien (APA) - Der Elfenbeinturm muss fallen: Egal ob als Mahner der aktuellen Politik, als Sammler von Bildern und Lebensgeschichten oder als kritischer Analyst der Vergangenheit. Zeithistoriker Gerhard Jagschitz hielt nie etwas davon, Wissenschaft hinter verschlossenen Türen zu betreiben. Dieser Überzeugung und wissenschaftlich aktiv ist er noch heute - am Dienstag (27.10.) begeht er seinen 75. Geburtstag.

Mit seiner schon ans Manische grenzenden Sammelwut hat Jagschitz das Bildarchiv des Instituts für Zeitgeschichte der Universität Wien zu einer der bedeutendsten Bild-Dokumentationen der jüngeren Geschichte Österreichs ausgebaut. Ab 1968 leitete er die audiovisuelle Abteilung des Instituts: Mit der digitalen Bildermasse sei man damals noch nicht konfrontiert gewesen: „Heute lebt man in einer Welt der Bilderflut, aber sie ist deswegen nicht authentischer oder eindrucksvoller geworden, eher ein bisschen gefährlicher - wenn ich dem Bild vertraue. Das grundsätzliche Misstrauen gegen die Fotografie als Quelle muss bestehen bleiben“, betonte er im APA-Interview.

Mit ebensolcher wissenschaftlicher Akribie hat Gerhard Jagschitz in fünfjähriger Arbeit ein Gutachten erstellt, mit dem er 1992 im Prozess gegen den Herausgeber der rechtsextremen Zeitschrift „Halt“, Gerd Honsik, die sogenannte „Auschwitz-Lüge“ vom Tisch gewischt und die von Honsik und seinen Gesinnungsgenossen immer wieder geleugnete Massenvernichtung von Menschen und die Existenz von Gaskammern im Konzentrationslager Auschwitz als eindeutig erwiesen bestätigt hat.

„Ich bin vom Ansatz ausgegangen, es gibt eine festgefahrene, tradierte Geschichte, aber wenn man in die Quellen geht, schaut das manchmal ganz anders aus“, erklärte Jagschitz. Nach Reisen, unter anderem durch Polen, habe sich dann tatsächlich ein neues Bild aufgetan. „Als ich fertig war, hat es auf einmal geheißen: ein sensationelles Gutachten. Dabei habe ich nur versucht, eine neue Struktur hineinzubringen. Denn die Geschichte war damals vor allem von den Überlebenden geprägt, die Struktur hatte sich bisher niemand angesehen.“

Mit nüchterner, wissenschaftlicher Distanz hat sich Jagschitz nicht nur im Honsik-Prozess als Gutachter profiliert, sondern auch im Wiederbetätigungsprozess gegen Gottfried Küssel 1994, in dem er zu dem Ergebnis kam, dass es sich bei der Volkstreuen Außerparlamentarischen Opposition (VAPO) um eine eindeutig nationalsozialistische Gruppe handle.

Jagschitz forderte dabei stets einen differenzierten Blick auf die Geschichte - und rüttelte so an so manchem österreichischen Mythos, von den Habsburgern als „Synonym für die gute alte Zeit, die es zwar nie gegeben hat, die wir aber brauchen, weil wir auf etwas stolz sein wollen“ bis zu Dollfuß („Er ist nicht der Heilige oder der Arbeitermörder, sondern sowohl als auch“).

Jagschitz ist auch stets Mahner und Kritiker der aktuellen Politik geblieben: Der Historiker hat nie ein Hehl aus seiner Ablehnung des EU-Beitritts Österreichs gemacht, den er mit einem „Souveränitätsverlust“ verbindet; 2008 war er Unterzeichner des „Manifests für ein demokratisches Europa“ gegen den EU-Reform-Vertrag. Politisch engagiert hat sich Jagschitz auch im Präsidentschaftswahlkampf 1998, als er in einem Proponentenkomitee die Kandidatur von Gertraud Knoll unterstützte. Anlässlich des Eurofighterausschusses 2007 attestierte Jagschitz, der schon 1995 vor der wachsenden „Partei der Nichtwähler“ gewarnt hatte, Österreich einen „bananenrepublikanischen Hauch“ und kritisierte die Tendenz der Politik, sich immer mehr in den Dienst weniger Interessensgruppen zu stellen.

Gerhard Jagschitz wurde am 27. Oktober 1940 in Wien geboren. Er studierte an der Uni Wien Psychologie, Pädagogik, Volkskunde, Ägyptologie, Deutsche Philologie und Geschichte und wurde nach seiner Dissertation in Neuerer Geschichte über „Die Jugend des Bundeskanzlers Engelbert Dollfuß“ 1968 promoviert. Dem Institut für Zeitgeschichte ist der Historiker seit dessen Gründung im Jahr 1966 verbunden. Von 1968 bis 1985 war er dort Assistent, habilitierte sich 1978 und wurde 1985 zum Universitätsprofessor für Neuere Geschichte mit besonderer Berücksichtigung der Zeitgeschichte ernannt. Zwischen 1994 und 2001 war er Vorstand des Instituts.

Als seine Forschungsschwerpunkte nennt Jagschitz Nationalsozialismus, Terror und Vernichtung im Dritten Reich, Auschwitz, Zweite Republik und Demokratie, Visual History, Fotografie, Österreichische Identität und Österreich in Europa. Neben der Bedeutung von Bilddokumenten betont Jagschitz auch die Wichtigkeit audiovisueller Dokumente, die den Alltag der Bevölkerung festhalten. Überhaupt sieht Jagschitz das Zuhören als Aufgabe eines Historikers, was sich auch in seinem neuesten Projekt niederschlägt.

„MenschenLeben“ - ein Vorhaben in Zusammenarbeit mit Mediathek, der Uni Salzburg und dem Ludwig Boltzmann Institut für Gesellschafts- und Kulturgeschichte - dokumentiert seit 2008 lebensgeschichtliche Erzählungen aus Österreich. Rund 3.000 Menschen haben ihre Erfahrungen und Erinnerungen in diesem laut eigenen Angaben größten Oral-History-Projekt Österreichs bereits festhalten lassen.