Historiker Jagschitz warnt vor „Verlugnerung“ der Zeitgeschichte 1

Wien (APA) - Als unermüdlicher Kommentator hat Zeithistoriker Gerhard Jagschitz etwa vor der „Partei der Nichtwähler“ gewarnt oder Österreic...

Wien (APA) - Als unermüdlicher Kommentator hat Zeithistoriker Gerhard Jagschitz etwa vor der „Partei der Nichtwähler“ gewarnt oder Österreichs EU-Beitritt hinterfragt. Im Interview mit der APA zu seinem 75. Geburtstag warnt er vor der „Verlugnerung“ der Zeitgeschichte, die es kaum mehr schaffe, Orientierung zu bieten. Kritik übt er auch an seiner Historikergeneration und ihrer „Koalitionsgeschichtsschreibung“.

APA: Sie haben sich immer dafür ausgesprochen, dass Zeitgeschichte nicht im Elfenbeinturm residiert. Inwiefern ist die Geschichtswissenschaft gerade in Zeiten wie diesen gefordert, einzuordnen und Linien zu bieten?

Jagschitz: Ich glaube, man muss das hierarchisch aufbauen. Zunächst muss der Historiker selbst etwas wissen wollen. Das ist überhaupt das oberste Ziel der Wissenschaft: neugierig zu sein. Man muss einmal ein guter Historiker sein, damit man überhaupt etwas sagen kann, das Hand und Fuß hat. Da merke ich derzeit schon, dass sehr viele Wissenschafter - nicht nur junge - irgendwas daherplappern oder eine Kleinigkeit wichtig nehmen, aber die Zusammenhänge, also eine ganzheitliche Sichtweise, gar nicht mehr haben. Das ist auch der Grund, warum die Zeitgeschichte droht, in die Beliebigkeit abzusinken.

APA: Inwiefern?

Jagschitz: Mir fällt auf, wahrscheinlich als alter Mann, der die gute alte Zeit betrauert, dass immer mehr Details aufgeblasen, aber die wirklich großen Linien nicht mehr gesehen bzw. hinter diesem Gestrüpp nicht mehr erkannt werden. Da ist schon die Gefahr, dass der Druck der Öffentlichkeit zunimmt und die Verlugnerung der Geschichte mehr und mehr zunimmt. Dazu kommt die zunehmende Virtualisierung, die Vermischung von Fakten und Fiktion. Ich kann natürlich neue Fragen stellen, das ist das A und O - aber man muss schon beim Kern der Geschichte bleiben. Bei dem, was man erkennen kann und was Sinn ergibt. Ich weiß nicht, ob der Anspruch an die Geschichte noch besteht. Sie selbst müsste ihn jedenfalls haben. Wir haben immer gesagt: Geschichte ist eine Orientierungswissenschaft. Wenn ich keine Orientierung aus der Geschichte hole, wozu habe ich sie dann. Und da bin ich mir nicht sicher, dass die Gesellschaft das noch von der Geschichte erwartet.

APA: Derzeit passiert diese Orientierung zu wenig?

Jagschitz: Für mich schon. Es gibt sehr viele Themen, die nicht mehr von Österreichern, sondern immer mehr von ausländischen Wissenschaftern bearbeitet werden. Beispielsweise Karl Lueger, der Holocaust oder der Nationalsozialismus, Bereiche, die wir eigentlich als unsere ureigensten Themen verstehen müssten. Das ist auch eine gewisse Schwäche der Zeitgeschichte. Es ist immer die Frage: Welche Funktion hat Geschichte und besonders Zeitgeschichte in einer Gesellschaft? Im Moment hat sie keine Konjunktur, aber: Wer heute lebt und politisch denkt, muss wissen, was gestern war. Zeitgeschichte verknüpft gestern, heute und morgen. Ich empfinde sie als etwas notwendig Ganzheitliches. Das ist halt sehr unmodern.

APA: War Zeitgeschichte früher noch präsenter - etwa in den Medien?

Jagschitz: Wir haben gesagt, raus aus dem Elfenbeinturm, die Gesellschaft will uns. Gleichzeitig war der Bedarf der Gesellschaft und der Politik an Zeitgeschichte auch da. Die Politik hat die Zeitgeschichte benutzt - ich selbst war da auch ein braver Diener -, um eine Identitätsgrundlage zu schaffen. In den 1970er-Jahren gab es den Versuch von Rot und Schwarz, eine gemeinsame Geschichte zu finden. Das ist natürlich im Chaos geendet, weil es keine gemeinsame Geschichte gibt, wenn der eine schießt und der andere das Opfer ist. Aber trotzdem war es ein Versuch, Zeitgeschichte zur Konsensgrundlage zu machen. Wir haben gesagt, wir gehen hinaus in die Gesellschaft, wir waren dauernd im Fernsehen. Es war damals die hohe Zeit der Zeitgeschichte.

APA: Kann das auch problematisch sein?

Jagschitz: Der Nachteil ist natürlich, dass man dann in Versuchung gerät, der Masse ihr Futter zu geben. Dann wird Zeitgeschichte nicht über den eigenen Ethos definiert, sondern danach, was kann ich der Masse an Futter geben. Das sehe ich auch heute. Aber auch wir haben Dinge falsch gemacht: Wir waren mehr oder minder Koalitionsgeschichtsschreiber. Das Denken dieser Generation war schon davon geprägt, einen Konsens zu finden. Heute ist das egal, heute kann man mit dem Hintern ins Gesicht fahren und alles sagen. Das ist auch wichtig. Da waren wir ein bisschen zu sehr am Fuße der Macht.