Russische Aktivistin: „Ich bin ziemlich pessimistisch“

Wien (APA) - Die russische Menschenrechtsaktivistin Irina Scherbakowa sieht Russlands harschen Umgang mit NGOs als „Angriff auf die Zivilges...

Wien (APA) - Die russische Menschenrechtsaktivistin Irina Scherbakowa sieht Russlands harschen Umgang mit NGOs als „Angriff auf die Zivilgesellschaft“. Die Zivilgesellschaft habe indessen selbst den Glauben an die eigene Handlungsfähigkeit verloren, sagte sie im APA-Interview in Wien. Ohne Demokratie und Rechtstaatlichkeit gebe es keinen Weg aus der gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Krise.

Auch wenn Scherbakowa die gegenüber Russlands Präsident Wladimir Putin kritische Bevölkerung auf circa 15 Prozent schätzt, sei diese Zivilbevölkerung weitgehend gelähmt. „Die Frage ist ja, was die Zivilgesellschaft überhaupt kann. Ich glaube da gibt es bei den meisten Menschen in Russland große Zweifel, dass sozusagen die Menschen zusammen etwas bewirken können.“ Nach den Parlamentswahlen 2011 hatte man über eine neue Protestbewegung und zunehmend kritisches Denken in Russland gejubelt. Das sei jetzt überwiegend verebbt.

Die Menschen seien vorsichtig geworden. „Zukunftspläne schmiedet man nur für sehr kurze Phasen. Ein Westeuropäer kann sich das nicht vorstellen. Die Menschen denken nicht weiter als einige Monate oder ein halbes Jahr. Und sie sind misstrauisch und mit vielen Sachen unzufrieden.“

Dementsprechend schlimm sei auch die Situation der NGOs im Land. „Es ist schlechter geworden, ganz massiv schon in den letzten zehn Jahren. Die Gesetzgebung gegen sie ist immer strenger und härter geworden. Die unglaubliche bürokratische Maschinerie war schon fast kafkaesk.“ Durch ein Gesetz des Justizministeriums wurden zahlreiche Menschenrechtsorganisationen als „ausländische Agenten“ eingestuft. Auch für die Arbeit der NGO „Memorial“, bei der Scherbakowa seit Jahren tätig ist, bedeutete dies massive Behinderungen.

Das Gesetz habe große finanzielle Probleme für viele Organisationen mit sich gebracht. Auch der politische Druck sei gestiegen. „Wenn man jemanden als einen ‚ausländischen Agenten‘ bezeichnet, ist er eigentlich ein Volksfeind. Diese Redewendung kommt aus den Jahren des Großen Terrors in der Sowjetunion. Jeder weiß, dass damals tausende Menschen verhaftet und beschuldigt worden sind, ausländische Agenten zu sein. Ziel dieses Gesetzes ist es natürlich, die Arbeit von NGOs zu unterbinden.“

Die Aktivistin beurteilt diese Maßnahmen als einen „Angriff auf die Zivilgesellschaft“. Es bleibe für sie jedoch ein Rätsel, warum Putin so eine Angst vor Kritik habe. „Man brüstet sich doch mit den Umfragen, die eigentlich ein Beweis sein sollen, dass die heutige russische Macht von der Mehrzahl der Bevölkerung unterstützt wird.“ Putin spiele dabei eine besondere Rolle. „Mit ihm verbindet man die Hoffnung, dass Russland die wirtschaftliche Krise überwindet und zurück zu Stabilität findet.“

Die Menschenrechtsaktivistin erklärt sich das harsche Vorgehen des Präsidenten gegen die Zivilgesellschaft so: „Die Geschichte lehrt uns, dass wenn man versucht, alles auf einen Nenner zu bringen, wenn man demokratische Institutionen abbaut, dann erscheint jede Proteststimme als gefährlich. Weil man selbst weiß, dass man Gewalt und Unrecht anwendet.“ In Ungarn und der Türkei sieht sie ähnliche Entwicklungen.

Anlass zu Kritik würde der russischen Zivilbevölkerung indessen nicht fehlen. „Russland ist in einer tiefen Krise. Keine Modernisierung wurde in diesem Land zustande gebracht. Also was moderne Technologien betrifft, da werden alle importiert aus dem Westen.“ Auch die zunehmende Zahl politischer Häftlinge und die Propaganda der Medien bereiten ihr Sorge.

Für sie hängt das eine mit dem anderen zusammen. „Russland ist nicht China. Ich glaube nicht, dass es ohne Demokratie und Freiheit zu einem wirtschaftlichen Aufschwung kommen kann.“ Russland habe viel verschlafen. „Die Zeiten, in denen wir durch Öl und Gas Wohlstand erlangt haben, sind meiner Meinung nach vorbei. Ohne einen Rechtsstaat wird sich die Wirtschaft nicht bessern. Man fühlt sich ja nicht geschützt als Investor.“

Auch mit Blick auf die Beziehung zwischen Russland und dem Westen sieht sie Versäumnisse auf russischer Seite. „Ich glaube, dass erstmal Russland bestimmte Schritte machen muss, damit es zu einem Dialog kommt.“ Russlands Außenpolitik habe weitere Spannungen geschürt. „Indem man solche Spannungs- und Katastrophengebiete geschaffen hat wie in der Ostukraine. Ich weiß auch nicht, wie es sich mit Syrien entwickelt. Da hab ich auch ganz starke Ängste als der Mensch, der in der Zeit aufgewachsen ist, wo der Krieg das Schreckliste war, was man sich vorstellen konnte. Deswegen hab ich schon starke Sorgen, wie es weitergehen soll.“

Als Hauptursache für die Einmischung in Syrien sieht Scherbakowa keine militärischen Ziele. „Russland war ja doch von der internationalen Politik lange Zeit ausgeschlossen. Jetzt will man diese Weltrolle zurück. Ich glaube, Putin wollte wieder mitreden und auch den Westen zwingen, dass man wieder mit ihm verhandelt.“

Irina Scherbakowa hielt diese Woche auf Einladung des „Wiener Wiesenthal Instituts für Holocaust-Studien“ einen Vortrag in Wien.