Müde Flügelschläge: Simon Stones „Engel in Amerika“-Marathon in Basel

Basel (APA) - „Mehr Leben! Das große Werk beginnt!“ Mit diesen Worten endete die erste Schauspielpremiere des vom Wiener Schauspielhaus an d...

Basel (APA) - „Mehr Leben! Das große Werk beginnt!“ Mit diesen Worten endete die erste Schauspielpremiere des vom Wiener Schauspielhaus an das Theater Basel gewechselten Direktors Andreas Beck am Samstagfrüh eine Minute nach Mitternacht. Viel Jubel und eine Runde Sekt für alle konnten freilich nicht darüber hinwegtäuschen, dass die „Engel in Amerika“ recht flügellahm geblieben waren.

Beck hat den in Basel geborenen australischen Regiestar Simon Stone engagiert, dessen im Akademietheater gefeierten, koproduzierten „John Gabriel Borkman“ er ebenfalls in Basel zeigen wird. Stone, dessen Spezialität der respektlose Umgang mit Bühnenklassikern ist, die er auf ihren Kern reduziert und mit heutiger Sprache neu erzählen lässt, zeigt großen Respekt vor Tony Kushners Drama, das Anfang der 1990er Furore gemacht hat. Er lässt es weitgehend vom Blatt spielen. Die beiden Teile „Engel in Amerika“ und „Perestroika“ zusammengenommen (es werden auch getrennte Aufführungen angeboten) dauert das, drei Pausen inklusive, sechs Stunden.

Auf der Bühne werden vor einer Reihe von Schminktischen mit wenigen Versatzstücken Schauplätze angedeutet, auf denen simultan oder verschnitten Parallelhandlungen ablaufen. Zu Recht hat Stone die raffinierte Dramaturgie Kushners gerühmt, der nicht nur Handlungsfäden miteinander verknüpft, sondern auch Halluzinationen und Fantasien auf das Natürlichste mit der Realität verbindet. In seiner eigenen szenischen Fantasie hat sich der Regisseur stark zurückgenommen, sogar der zentrale Engels-Auftritt erfolgt recht prosaisch mit einem simplen Pyrotechnik-Effekt durch die Bühnendecke (die später abgesenkt wird, um einen Akt im Oberstübchen spielen zu lassen).

Kushners Stück spielt in den USA der Reagan-Ära. Extremer Konservativismus trifft auf das massive Auftreten einer schweren Erkrankung, die als Geißel Gottes gebrandmarkt wird: AIDS, die „Schwulen-Seuche“. Sie erfasst leichtlebige Drag-Queens und korrupte Anwälte gleichermaßen. Roy Cohn, bis in höchste Kreise des republikanischen Polit-Apparates vernetzte Zentralfigur des Stückes, verkörpert den Anspruch der Mächtigen, über den Alleininterpretationsanspruch der Welt zu gebieten: Schwule verfügen über keinen Einfluss - also kann Cohn kein Homo sein, auch wenn er mit Männern schläft.

Das Gesellschaftspanorama aus der zweiten Hälfte der 1980er, das den Aufstieg des Neoliberalismus, den vermeintlichen Sieg des Kapitalismus über den Kommunismus, die Ängste vor Seuchen und Ozonloch sowie die Hoffnungen nach dem Zerfall des Sowjet-Imperiums miteinander verband, war einst atemberaubend aktuell. Ein Vierteljahrhundert später kann das Stück nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Welt sich weitergedreht hat und die Rotationsgeschwindigkeit immer größer zu werden scheint. Auf den Engelsflügeln hat sich reichlich Staub angesammelt. Diesen abzuschütteln, versäumt Stone.

Burgtheater-Ensemblemitglied Roland Koch, für seinen Foldal in Stones „Borkman“ für einen Nestroy nominiert, ist Roy Cohn. Die Premiere ist nicht ganz sein Tag. Textschwierigkeiten passen nicht zur Figur des zynischen Mächtigen mit Allmachtsanspruch, der seinen Status bis zum letzten Atemzug verteidigt. Umso glaubwürdiger ist er in seinem Leiden.

Aus dem guten Ensemble - darunter Michael Wächter und Pia Händler als einander mehr in Leid als in Liebe verbundenes Ehepaar sowie Florian Jahr und Nicola Mastroberardino als schwules Pärchen - sticht eine Schauspielerin heraus, die mit Beck von Wien nach Basel übersiedelt ist: Barbara Horvath überzeugt mit einem breiten Gestaltungs-Spektrum vom jüdischen Rabbi über die strenge Mormonen-Mutter bis zur irritierenden Erscheinung der von Cohn auf den elektrischen Stuhl geschickten angeblichen Spionin Ethel Rosenberg.

Becks Schauspiel-Auftakt mit „Engel in Amerika“ war ambitioniert. Überzeugt hat er noch nicht. Doch alleine im Oktober folgen noch die Uraufführung der Roman-Adaption „Schlafgänger“ von Dorothee Elmiger, Nora Schlockers Inszenierung von Maxim Gorkis „Kinder der Sonne“ mit vielen ehemaligen Wiener Schauspielhaus-Stars und „LSD - Mein Sorgenkind“ von Thom Luz. Der erste Marathon ist geschlagen. Doch das Rennen hat eben erst begonnen.

(S E R V I C E - „Engel in Amerika“ von Tony Kushner, Aus dem Englischen von Frank Heibert. Teil I: „Die Jahrhundertwende naht“, Teil II: „Perestroika“,Theater Basel, Inszenierung: Simon Stone, Bühne: Ralph Myers, Kostüme: Mel Page, Musik: Stefan Gregory, Nächste Vorstellungen: 25./26.10., 1.11., 6./8.11., 14.11., Karten: 0041/612951133, www.theater-basel.ch)

(B I L D A V I S O - Bilder sind im Pressebereich von http://www.theater-basel.ch downloadbar.)