Türkei-Wahl - Die Türken haben klare Verhältnisse geschaffen
Istanbul (APA) - Er wollte mehr Macht, er scheint sie bekommen zu haben: Zwar stand Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan bei dem Urnengang a...
Istanbul (APA) - Er wollte mehr Macht, er scheint sie bekommen zu haben: Zwar stand Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan bei dem Urnengang am Sonntag überhaupt nicht zur Wahl, doch wie schon bei der vorigen Parlamentswahl vom 7. Juni drehte sich wieder alles um seine Person - und seine Partei AKP hat nun triumphiert.
Vor fünf Monaten standen die Zeichen noch auf Veränderung, doch die Wähler haben sich nun für Stabilität entschieden. Das Kalkül von Erdogan und der AKP ist damit aufgegangen. Nämlich nach der Wahlschlappe statt einer Koalition einfach die Wähler nochmals an die Wahlurnen zu bitten. Entgegen allen Vorhersagen der Meinungsforscher konnte die AKP am Sonntag mit knapp 50 Prozent der Stimmen die vor fünf Monaten verlorene absolute Mehrheit zurückerobern.
Nach den vorläufigen Ergebnissen sicherte sich die AKP 317 der 550 Sitze in der Nationalversammlung. Die kemalistische CHP kommt mit 25 Prozent demnach auf 134, die prokurdische HDP mit knapp 11 Prozent auf 59 und die MHP mit 12 Prozent auf 40 Abgeordnete. Die HDP ist damit nur knapp ins Parlament eingezogen.
Trotzdem ist Erdogan noch nicht am Ziel. Zu der angestrebten Zwei-Drittel-Mehrheit reicht dieses Ergebnis zwar immer noch nicht, und damit kann Erdogan keine Verfassungsänderung im Alleingang durchsetzen. Doch sein Wunsch, die Einführung eines Präsidialsystems mit weitreichenden Vollmachten für ihn, ist damit in erreichbare Nähe gerückt.
Der alte und wahrscheinlich neue Ministerpräsident Ahmet Davutoglu sprach in der Nacht auf Montag schon davon, eine neue Verfassung in Angriff nehmen zu wollen. „Lassen wir die Putschverfassung hinter uns, und fassen wir alle zusammen mit an für eine zivile und freiheitliche Verfassung“, sagte Davutoglu laut der Nachrichtenagentur Anadolu.
Als Davutoglu am Sonntag in seiner Geburtsstadt, der zentralanatolischen Millionenstadt Konya, eine Rede hielt, zeigte er sich vor tausenden jubelnden Anhängern noch staatsmännisch. „Heute gehört der Sieg unserem Volk“, sagte Davutoglu. In Konya stimmten 74 Prozent für die AKP. „Am 7. Juni wollte man, dass ihr euch duckt und schweigt. Aber ihr wart entschieden und habt euch für das Wohl eures Landes entschieden. Gott sei Dank dafür.“ Der Gewinner dieser Wahl sei die ganze Nation und die Demokratie.
Für die Opposition sind solche Worte ein Hohn. Der Chef der kemalistischen Oppositionspartei CHP, Kemal Kilicdaroglu, und der Ko-Vorsitzende der prokurdischen HDP, Selahattin Demirtas, befürchten, dass die AKP weiter Gesetze brechen und die Meinungsfreiheit noch stärker einschränken werde. Eine berechtigte Sorge. So wurden allein in den vergangenen Wochen Redaktionen von AKP-Anhängern gestürmt oder regierungskritische Medien gleich ganz mundtot gemacht. Seit Erdogans Amtsantritt als Präsident im August 2014 hat die Justiz rund 230 Verfahren wegen „Beleidigung des Präsidenten“ eingeleitet.
Der Kurdenpolitiker Demirtas kritisierte noch am Sonntag: „Es herrscht keine Partystimmung. Ein bedeutender Teil der Gesellschaft ist immer noch sehr besorgt. Die Bürger fragen sich, wie weit es die AKP unter diesen neuen Bedingungen mit ihrem Wahnsinn noch treiben kann.“ Zudem, so sagte Demirtas, habe die HDP keinen ordentlichen Wahlkampf führen können. „Wir haben diese knapp elf Prozent aus einem Wirbelsturm heraus erzielt, ohne einen anständigen Wahlkampf führen zu können. Wenn diese Hetzkampagne, die gegen uns geführt wurde, einer anderen Partei widerfahren wäre, sie würde wahrscheinlich nicht mehr existieren.“
Wie es nun weitergehen wird, ist nicht absehbar. Die Türkei steht vor gewaltigen Herausforderungen: Die Wirtschaft lahmt, die Polarisierung zwischen Türken und Kurden wurde in den letzten Monaten durch die AKP angefacht, es werden noch mehr Flüchtlinge aus den Nachbarländern erwartet, drei Terroranschläge erschütterten das Land. Ob die Menschen nun auf Ruhe hoffen können, ob der Friedensprozess mit der verbotenen Arbeiterpartei Kurdistans PKK nun wieder fortgeführt werden wird, all das ist zum jetzigen Zeitpunkt nicht klar.
Aber sollte das Wahlergebnis einer Prüfung standhalten, kann die EU sich über diese Machtverhältnisse je nach Sichtweise freuen oder ärgern. Denn die Zusammenarbeit in der Flüchtlingsfrage mit dem starken Erdogan kann dann weitergehen. Wenn es ihm nützt, dann ist Erdogan gerne gesprächsbereit. Kritik von der EU an Demokratiedefiziten und der Verletzung von Menschenrechten, die man sich bisher ohnehin verbeten hatte, wird man nun noch vehementer ablehnen. Denn mit diesem satten Mandat wird die AKP noch selbstbewusster auftreten, als sie es ohnehin schon immer getan hat.