Erdogans List ging auf: Kurden zwischen Wut und Freude
Diyarbakir im Südosten der Türkei ist eine Hochburg der pro-kurdischen HDP. Nachdem nun klar ist, dass Erdogans AKP wieder alleine regieren kann, schwanken die Menschen dort zwischen Enttäuschung und Freude darüber, dass auch die Kurden im Parlament vertreten sind. Sie sind aber auch wütend auf die Regierung - und die verbotene kurdische Arbeiterpartei PKK.
Von Mirjam Schmitt/dpa
Istanbul - Es knallt mehrmals, jemand feuert Schüsse ab. Die Händler in der Altstadt Diyarbakirs drehen sich erschrocken um und lachen dann erleichtert, als ein paar Vögel auffliegen. Jemand wollte Spatzen vertreiben, mehr nicht. „Es könnte nur ein Luftballon platzen, und alle würden zusammenzucken“, sagt der Kellner Nizam, der gerade Tee ausschenken wollte. Die Straßenkämpfe im Viertel Sur vor wenigen Wochen seien noch nicht vergessen.
Noch in der Nacht auf Montag brannten in Diyarbakir die Barrikaden. Demonstranten gerieten mit der Polizei aneinander. Doch am Tag nach der türkischen Parlamentswahl ist Ruhe eingekehrt. Die Leute kaufen ein, trinken Tee und reden über das Wahlergebnis.
Diyarbakir im Südosten der Türkei ist eine Hochburg der pro-kurdischen HDP. Mehr als 73 Prozent stimmten hier nach ersten Ergebnissen für die Partei, doch landesweit reichte es für die HDP nur knapp zum Sprung über die Zehn-Prozent-Hürde. Auch in Diyarbakir verlor sie viele Stimmen. Die islamisch-konservative AKP dagegen legte überraschend um sieben Prozentpunkte zu.
Nachdem nun klar ist, dass die islamisch-konservative AKP in der Türkei wieder alleine regieren kann, schwanken die Menschen in Diyarbakir zwischen Enttäuschung und Freude darüber, dass die Kurden im Parlament vertreten sind. Sie sind aber auch wütend auf die Regierung - und die verbotene kurdische Arbeiterpartei PKK.
„PKK hat Wasser auf die Mühlen der AKP gegossen“
Nach der Parlamentswahl im Juni eskalierte der Konflikt zwischen der Regierung und der PKK. Viele Kritiker werfen der AKP und Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan vor, den Konflikt bewusst angeheizt zu haben, um mit dem Versprechen der Stabilität zusätzliche Stimmen einzuheimsen. Der 63-jährige Fleischhauer Mahmoud hat die AKP genau aus diesem Grund gewählt, wie er sagt. „Eine Alleinregierung der AKP ist gut für das Land“, meint er. Die PKK habe dem Co-Chef der HDP, Selahattin Demirtas, Steine in den Weg gelegt, weil sie den Kampf gegen die Regierung in die Städte getragen habe.
Auch in Diyarbakir lieferte sich die Jugendorganisation der PKK (YDG-H) noch vor einigen Wochen vor allem im Viertel Sur Gefechte mit den Sicherheitskräften. Die YDG-H zog Gräben um das Viertel, der Gouverneur verhängte Ausgangssperren. Die HDP, die der PKK nahesteht, konnte dies nicht verhindern. Viele Bewohner sprechen daher von einer Abstrafung der HDP.
„Die PKK hat Wasser auf die Mühlen der AKP gegossen“, sagt ein 45-jähriger Händler, der ebenfalls Mahmud heißt. 15 Tage lang sei das Viertel isoliert gewesen. Überall sei geschossen worden. Die Händler hätten ihre Geschäfte nicht öffnen, die Kinder nicht auf die Straße gehen können. „Die Menschen hier haben die Nase voll vom Krieg“, sagt er. Er selbst habe HDP gewählt, viele seiner Verwandten seien jedoch gar nicht erst zur Wahl gegangen.
Der 24-jährige Cezavir trägt gerade die kurdische Zeitung „Özgür Gündem“ aus, die mit der Titelschlagzeile aufmacht: „Neue Ära des Kampfes“. Cezavir gewinnt dem Wahlergebnis durchaus etwas Positives ab. „Die HDP ist trotz Druck und Verfolgung ins Parlament eingezogen“, sagt er.
„Europa mischt sich sonst überall ein. Warum hier nicht?“
Tatsächlich war der Wahlkampf ungleich verlaufen. Nach dem verheerenden Terroranschlag am 10. Oktober mit mehr als 100 Toten in Ankara hielt die HDP keine Wahlkampfveranstaltungen mehr ab - aus Angst vor weiteren Anschlägen. Hinzu kamen Angriffe auf Parteibüros, die Demirtas noch am Wahlabend anprangerte. Die türkischen Medien sind ohnehin zum großen Teil in der Hand der AKP. Und noch am Wahltag patrouillierte dieselbe Spezialpolizei vor den Wahllokalen in Sur, die zuvor Razzien im Viertel durchgeführt hatte.
Erdogans List sei aufgegangen, sagt die 37-jährige Ghuzal Tunc. „Er hat uns gedroht und gesagt, in der Türkei würden Krisen und ein Bürgerkrieg ausbrechen, wenn wir der AKP nicht die Mehrheit geben. Die Menschen im Südosten hatten Angst.“ Während der Kämpfe in Diyarbakir seien viele Zivilisten gestorben, darunter ein 12-jähriges Mädchen. Das schlimmste sei, sagt Tunc, dass die Menschen im Südosten keine Unterstützung von der EU erhielten. „Europa mischt sich doch sonst in alles ein. Warum hier nicht? Warum sagen sie nichts, wenn Menschenrechte verletzt werden? Warum bieten sie Erdogan nicht die Stirn?“