Auf- und Abstieg von Volksparteien
Zur Entwicklung eines Parteitypus.
Von Anton Pelinka
Eine Volkspartei ist eine Partei, die sich weder als Klassen- noch als Weltanschauungspartei abstempeln lassen will. Dass in Österreich 1945 Funktionäre der früheren „Christlichsozialen Partei“ ihre neu zu gründende Partei „Österreichische Volkspartei“ nannten, diente auch als vorsichtige Absage gegenüber der Identifikation mit katholischen Kirche — die ÖVP wollte nicht als Partei der Prälaten und Kapläne erscheinen. Eine „Volkspartei“ wollte die ÖVP aber auch im Gegensatz zu der sich als Arbeiterpartei definierenden Sozialistischen Partei Österreichs sein: die ÖVP als eine Partei der Bünde und damit als eine Partei jenseits der Klassengesellschaft.
Allerweltsparteien
Dieser Anspruch der Volkspartei reibt sich freilich mit einer sich ständig wandelnden Realität. Die Bauern, die stabilste Säule der ÖVP, sind in den letzten 70 Jahren immer weniger geworden. Die wachsende Mehrheit der Wählenden lässt sich als Arbeiter, Angestellte oder öffentlich Bedienstete definieren, wobei allerdings die Arbeiter vor ähnlichen Problemen des quantitativen Bedeutungsverlustes stehen wie die Bauern — und das schafft Probleme für die SPÖ. Erfolgreiche Volksparteien in anderen Staaten scheuen sich übrigens nicht, die Etikette „christlich“ zu verwenden — wie die Christlich-Demokratische Union Deutschlands es vormacht. Bei der ist freilich das „Christliche“ nicht so leicht zu definieren, hat doch mehrere Jahre hindurch ein prominentes Mitglied der jüdischen Gemeinde auch im Führungsgremium der CDU gewirkt.
Vor allem aber sind seit 1945 gesellschaftliche Widersprüche deutlicher geworden — oft politisch wichtiger als die der Klassen oder der religiös definierten Weltanschauungen. Die Spannungen zwischen den Generationen und auch die zwischen den Geschlechtern liegen quer zu den Gegensätzen der Klassen und Weltanschauungen. Das Konzept „Volkspartei“ braucht daher eine Erweiterung. Und die liefert der US-amerikanische Begriff der „Catch All Party“; am besten übersetzt mit „Allerweltspartei“.
Die ist eine Partei, die grundsätzlich alle Wählerinnen und Wähler anzusprechen versucht — jenseits von Klasse und Ideologie. Ursprünglich waren auch die beiden amerikanischen Großparteien, die Demokraten und die Republikaner, Modell für eine Partei dieses Typs. Inzwischen freilich haben es mehr oder weniger erfolgreich auch Parteien außerhalb der USA umzusetzen versucht: In Japan waren es die Liberal-Demokratien, in Indien die Kongresspartei.
In Österreich waren SPÖ und ÖVP lange Zeit auf ihrem Weg, selbst Allerweltsparteien zu werden, durchaus erfolgreich. Die SPÖ ist, ausgehend von ihren Wählerinnen und Wählern, eine Partei der Arbeitnehmer — aber keineswegs der Arbeiter. Und der Marxismus, einstmals der Kern eines spezifisch sozialdemokratischen Ideengutes, spielt nur noch am Rande eine Rolle. Die ÖVP wiederum vertritt zwar nach wie vor die große Mehrzahl der bäuerlichen Bevölkerung, diese ist aber insgesamt zu einer kleinen Minderheit geworden. Und die „aktiven“ Katholikinnen und Katholiken, einst der Kern der ÖVP-Wählerschaft, sind ebenfalls zu einer Schrumpfgröße geworden. Vor allem aber haben beide Parteien große Schwierigkeiten, den Graben zwischen den Generationen zu überbrücken: SPÖ und ÖVP sind die Parteien, die überdurchschnittlich oft von Alten, aber immer weniger von Jungen gewählt werden.
Diesen Graben scheint eine andere Partei überbrücken zu können: die FPÖ. Wie die Grünen werden die Freiheitlichen überdurchschnittlich stark von den Jüngeren gewählt, aber anders als die Grünen verfügt die FPÖ auch über eine wichtige Position unter den älteren Wählerinnen und Wählern. Ist die FPÖ also eine Volkspartei, eine Allerweltspartei?
Zu einer Allerweltspartei zählt auch, dass sie möglichst wenig negative Emotionen provoziert. Scharfe Ecken und Kanten passen nicht zu einer Partei, die vor allem viele Menschen ansprechen und möglichst wenig abstoßen will. Das haben SPÖ und ÖVP auf ihrem Weg zu ihren größten Erfolgen vorgemacht: Bruno Kreiskys Wort, er lade alle ein, „ein Stück des Weges gemeinsam zugehen“, war das Programm einer Volkspartei schlechthin. Erfüllt die FPÖ dieses Kriterium?
Modernisierungsverlierer
In der Vergangenheit konnte die FPÖ sich von ihren Wurzeln nicht wirklich lösen. Sie war, in der Nachfolge des Verbandes der Unabhängigen (VdU), 1955 von ehemaligen Nationalsozialisten gegründet worden, um den sich im befreiten Österreich 1945 heimatlos fühlenden „Ehemaligen“ eine politische Heimat zu geben. Dieser Hintergrund polarisierte: Sich mit der FPÖ auseinanderzusetzen, bedeutete, sich mit der nationalsozialistischen Vergangenheit auseinanderzusetzen.
Das hat sich zwei Generationen später verschoben — teilweise. Die FPÖ, deren Abgeordnete 1955 (noch als VdU-Abgeordnete) im Nationalrat gegen das Neutralitätsgesetz gestimmt haben, ist heute unbedingte Befürworterin der Neutralität. Und der Deutschnationalismus des „Dritten Lagers“ hat — teilweise — einem Österreich-Patriotismus Platz gemacht: Niemand vermag Heinz-Christian Strache beim Schwingen der rot-weiß-roten Fahne zu übertreffen.
Dennoch polarisiert die FPÖ mehr als SPÖ oder ÖVP. Gegen die freiheitliche Politik gegenüber Flüchtlingen können nach wie vor Lichtermeere mobilisiert werden und der freiheitliche „Akademikerball“ provoziert Emotionen wie keine andere derartige Veranstaltung. Freiheitliche Ecken und Kanten sind nicht verschwunden — obwohl sich die Partei bemüht, eine Balance zwischen FPÖ-alt und FPÖ-neu zu halten.
FPÖ-alt: Das sind die Aktivisten der betont männerbündisch auftretenden schlagenden Verbindungen (Burschenschaften, Corps), aus denen sich nach wie vor weite Teile der Führungsschicht der Freiheitlichen rekrutiert; das sind nach wie vor Vertreterinnen und Vertreter, denen zum Nationalsozialismus in der Öffentlichkeit nur einfällt, man sei gegen „alle totalitären Ideologien“. FPÖ-neu: Das ist die Partei, die erfolgreich die Modernisierungsverlierer anspricht; die sozial Schwachen, die sich von Globalisierung, Europäisierung und Migration bedroht fühlen; und die mit Deutschtümelei ebenso wenig etwas am Hut haben wie mit Wehrmachtsnostalgie à la Ulrichsberg.
Jede Volkspartei muss eine Gratwanderung meistern: Niemanden zu verschrecken, das ist die eine Aufgabe; das Gefühl zu vermitteln, dennoch eine klare Botschaft zu vertreten — gegen „die da oben“ oder „die da draußen“, das ist die andere. Beides zu schaffen, das ist nicht leicht. Der Absturz in die eine oder andere Richtung ist immer möglich. SPÖ und ÖVP als Volksparteien leiden darunter, dass die zwar kaum jemanden verschrecken — aber wo sind ihre Botschaften, die als genügend klar und eindeutig wahrgenommen werden? Die FPÖ wiederum mag eine Volkspartei sein — aber nach wie vor ist die Partei für viele abschreckend.
Eine Gratwanderung
Bei der Landtags- und Gemeinderatswahl in Wien überboten SPÖ, Grüne und NEOS einander mit dem Versprechen, es nie und nimmer mit den Freiheitlichen treiben zu wollen. Die ÖVP hielt sich bedeckt. Das Ergebnis ist bekannt: Die FPÖ wurde erheblich gestärkt, aber der explizit antifreiheitliche Block der drei Parteien hat standgehalten. Nur die ÖVP in Wien demonstrierte das Schicksal einer Volkspartei, die zwar niemandem wehtut, die aber nicht mehr vermitteln kann, wozu sie überhaupt noch gebraucht wird.