Mit dem Erklär-Onkel im Protestcamp
In ihrem neuen Roman „Gehen, ging, gegangen“ widmet sich Jenny Erpenbeck der Flüchtlingskrise – und geht dabei auf Nummer sicher.
Von Joachim Leitner
Innsbruck –Der Vorwurf geistert seit einer gefühlten Ewigkeit durch literaturkritische Debatten: Der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur fehlt der Bezug zur Welt. Sie ergeht sich in fein gearbeiteter Nabelschau, erörtert das was Maxim Biller kürzlich „Berlin-Mitte-Probleme“ nannte. Nun, im Falle von Jenny Erpenbecks Berlin-Roman „Gehen, ging, gegangen“ greift diese zur Floskel geronnene Sentenz nicht. Im Gegenteil: „Gehen, ging, gegangen“ ist so randvoll mit brennend aktueller Dringlichkeit, dass man beinahe Kalkül vermuten möchte. Was natürlich auch falsch ist: Ein Buch schreibt man nicht über Nacht – und dass ihr Thema, die Situation von Schutzsuchenden und Flüchtlingen in Europa und unser zwischen Ressentiment und Mitgefühl taumelnder Umgang damit, zum Schlagzeilenträchtigsten des Herbstes 2015 werden würde, konnte Erpenbeck wohl auch nicht wissen.
Nichtsdestotrotz wurde „Gehen, ging, gegangen“ bereits vor Erscheinen zum „Buch der Stunde“ geadelt. Es galt als Favorit für den Deutschen Buchpreis – und ging, einigermaßen überraschend, leer aus. Was durchaus in Ordnung geht, denn im Falle einer Auszeichnung hätte man wohl oder übel von einer politischen und keiner literarischen Entscheidung sprechen müssen. Oder anders gesagt: „Gehen, ging, gegangen“ mag ganz nah am Puls der Zeit sein, aber als Roman überzeugt der Text nur bedingt.
Zu offensichtlich ist das fraglos löbliche Ansinnen, hinter die nach oben korrigierten Flüchtlingsstatistiken auf die Einzelschicksale zu schauen – und den Schutzsuchenden ein Gesicht und eine zweifellos akribisch recherchierte Geschichte zu geben. Doch gerade die Konstellation, die Erpenbeck dafür entwirft, lässt „Gehen, ging, gegangen“ zu einem seltsam holzschnittartigen Roman werden.
Ein pensionierter Altphilologe, Richard, will sich in der Nähe des Alexanderplatzes über eine archäologische Grabung informieren – und wird von der Gegenwart eingeholt. Zehn junge Afrikaner kündigen einen Hungerstreik an. Sie fordern Bleiberecht und die Aussicht auf Arbeit.
Was genau da passiert, versteht Richard zunächst nicht. Aber es interessiert ihn. Er besucht die Flüchtlinge in ihrem Protestcamp, sucht das Gespräch mit ihnen, sammelt ihre Geschichten, die er – ein Altphilologe eben – in mythologisch und bildungsbürgerlich überhöhte Zusammenhänge setzt: War nicht auch Tamino in der „Zauberflöte“ einer, dem die Weiterreise verwehrt wurde? Und was wäre Goethes Iphigenie ohne ihren Migrationshintergrund?
Letztlich – und das ist das große Problem des Buches – ist dieser Richard, der sich vom antriebslosen Schöngeist zum Pionier einer engagierten Willkommenskultur aufschwingt, weniger Charakter als narrative Funktion: ein Erklär-Onkel, der die Absurdität der europäischen Flüchtlingspolitik, das Abkommen Dublin II zum Beispiel, mit vermeintlich naiven Fragen bloßstellt und permanent darum bemüht, Tragik und Trauma der Situation in gut kaubare und leichtverdauliche Häppchen zu portionieren.
Kurzum: „Gehen, ging, gegangen“ mag eines der Bücher der Stunde sein, gegenwärtig, welthaltig und allein schon seiner Programmatik wegen wichtig. Ein wirklich gelungener Roman ist es aber nicht. Dafür geht er zu schnell auf Nummer sicher, ist – schlicht und ergreifend – zu brav.
Roman Jenny Erpenbeck: „Gehen, ging, gegangen“. Knaus, 350 Seiten, 20.60 Euro.