Film und TV

Vom Dschungel in die Vorstädte

© Filmladen

Jacques Audiard eroberte mit seinem politischen Flüchtlingsdrama „Dheepan – Dämonen und Wunder“ beim diesjährigen Filmfestival in Cannes die Goldene Palme.

Von Peter Angerer

Innsbruck –Es ist mehr als eine ungeheuerliche Unterstellung, aber wie ist es möglich, dass ein Verdächtiger irgendwo in unübersichtlichem Gelände in Afghanistan oder Pakistan aufgespürt und beispielsweise während einer Hochzeitszeremonie mit Dutzenden von Zivilisten getötet werden kann, während jene 23.000 Menschen unentdeckt blieben, die seit dem Jahr 2000 beim Versuch, das Mittelmeer zu überqueren, ertrunken sind? In Jakob Brossmanns Dokumentarfilm „Lampedusa im Winter“ ist das Flüchtlingsmuseum zu sehen, das auf der italienischen Insel mit angeschwemmten Fundstücken wie Schuhen, Musikkassetten und Tagebuchschnipseln eingerichtet wurde, um an die zerstörten Träume und Hoffnungen jener Flüchtlinge zu erinnern, die nichts mehr erzählen können. Aber auch im Überlebensfall bleibt die Frage offen, ob wir die von ihnen erzählten Geschichten überhaupt hören oder ertragen wollen.

Mit seiner äußerst ambivalenten Flüchtlingsgeschichte „Dheepan“ gewann der französische Regisseur Jacques Audiard beim diesjährigen Filmfestival in Cannes die Goldene Palme. Die für diese politische Entscheidung verantwortlichen Jury-Präsidenten waren Joel und Ethan Coen, die als Kinder jüdischer Migranten in Amerika über eine besondere Sensibilität für Flüchtlingsschicksale verfügen und auch in ihren Filmen immer wieder vom Fremd-Sein erzählen. Allerdings hat sich in dem halben Jahr seit dem Triumph in Cannes durch die aktuellen Ereignisse nicht nur der Blick auf die Wirklichkeit sondern auch jener auf Audiards Film verändert.

Mit seinem Protagonisten Dheepan (Antonythasan Jesuthasan) hat Audiard („Ein Prophet“, „Der Geschmack von Rost und Knochen“) einen Protagonisten gewählt, dessen „wahre“ Biografie vor keinem Asylgericht bestehen könnte. Als Angehöriger der tamilischen Minderheit auf Sri Lanka ist er zum Krieger und – nach der Erklärung der EU-Kommission von 2006 – zum Terroristen geworden. Mit dieser Einschätzung ersparte sich Europa auch die Auszahlung der bereits zugesagten Hilfsgelder von zwei Milliarden Euro nach der Tsunami-Katastrophe von 2004. Dabei war es der von den Tamilen bewohnte Nordosten Sri Lankas, der am schwersten von der Katastrophe betroffen war. Die Opfer wurden so für ihre Rebellenarmee doppelt bestraft.

Mit den Papieren einer getöteten Familie könnte Dheepan die Flucht nach Frankreich gelingen, sofern er eine im Pass angeführte Ehefrau und eine Tochter auftreiben kann. Yalini (Kalieaswari Srinivasan) möchte zwar zu ihrer bereits nach London geflüchteten Schwester, aber Paris ist ein Anfang. In einem Flüchtlingslager finden Dheepan und Yalini die zehnjährige Illayaal (Claudine Vinasithamby). Das Mädchen ist zwar für das Passbild schon etwas zu alt, doch die falsche Familie ist komplett. Für die Behörden in Frankreich bleiben Zweifel angesichts des nicht gerade zärtlichen Umgangs, aber mit dem Hinweis auf Trauma und kulturelle Unterschiede lässt sich jede Skepsis zur Seite schieben. Umgekehrt erleben auch die tamilischen Asylanten bei der Beobachtung französischer Eigenheiten seltsame Crashkurse in der Werte-Vermittlung. Nach einer kurzen Karriere als illegaler Straßenhändler wird Dheepan in einem von der Polizei längst aufgegebenen Slum in den Pariser Ban­lieues zum Hausmeister ernannt. Drogenbanden füllen das Vakuum des abwesenden Staates, der die sozialen Probleme durch Wegschauen zu lösen versucht. Als vorerst unbeteiligter Zeuge der Gemetzel zwischen den Banden kann der tamilische Ex-Krieger nur noch überleben, wenn er seine Erfahrungen aus dem Dschungelkrieg nutzt. Dass dieser Kampf so authentisch aussieht, hat auch mit dem Dheepan-Darsteller Antonythasan Jesuthasan zu tun. Der als Schriftsteller in Paris lebende Tamile war vor seiner Flucht ein Mitglied der Rebellenarmee, in die ihn die Liberation Tigers of Tamil Eelam (LTTE) schon als Kind gepresst hatte.