Im Märchenland der Darmverschlingung
Joachim Meyerhoff bereist in Herbert Fritschs pompöser Inszenierung von Molières „Der eingebildete Kranke“ das hypochondrische Ich.
Von Bernadette Lietzow
Wien –Standesausweis all der Quacksalber, die sich am pathologischen Hypochonder Argan gesundstoßen, sind abscheuliche Struwwelpeter-Finger. Diesen Händen, die die abstrusesten Einläufe setzen, Tinkturen verabreichen und stolze Summen entgegennehmen, hat sich Molières „eingebildeter Kranker“ ausgeliefert.
Herbert Fritsch, der gefeierte Regisseur und langjährige Schauspieler der Volksbühne Berlin, Jahrgang 1951, taucht in seinem Burgtheater-Debüt tief ein in die ihm vertraute barocke Komödienwelt des französischen Klassikers. Im Wissen um die historische öffentliche Intimität des Sonnenkönig-Zeitalters erweitert Fritsch mit seinem hochkarätigen Ensemble lustvoll den Rahmen, den „Der eingebildete Kranke“ vorgibt. Anhand von Sabrina Zwachs kecker Neufassung, die zwischen Molières Rosenhonig-Klistiere mit großer Verve einen der Bestseller neuzeitlicher Verdauungsfixierung namens „Darm mit Charme“ schaltet und das Töchterchen ihren Papa Argan „Herpespapachen“ nennen lässt, bevor es eilig den Herpes gegen das Herz eintauscht, lockern sich die Lachmuskeln des Premierenpublikums. Wobei sich der Text in Fritschs Auffassung von Theater dem Klang der Worte, der Mimik und der Körperbewegung unterzuordnen hat, mit dem Effekt, dass mittels Wortüberdehnungen, schiefen Betonungen, ausuferndem Mienenspiel und akrobatischem Slapstick anarchistische Komik produziert wird. Bestechend und ein Heilmittel gegen billigen Klamauk, der in einer dermaßen beflügelten Herangehensweise droht, ist die Eleganz, die der Regisseur bewusst einfordert. Sein leerer Bühnenraum wird allein von Licht bestimmt, das zu Beginn und am Ende orgelartig in Regenbogenfarben leuchten darf, dazwischen jedoch meist Projektionen von Knochen- und Gebissröntgen zeigt. Einzige „Möbel“ sind drei für die Produktion entwickelte, selbstspielende Cembali, die Ingo Günthers den Geist barocker Klänge atmende Kompositionen zu Gehör bringen. Viktoria Behrs Kostüme, ganz der gegenwärtig kaum glaubhaften farblichen wie stilistischen Ausgelassenheit des Rokoko geschuldet, mit kleinen ironischen Details, die das Heute durchscheinen lassen, ergänzen kongenial den großen Willen, Molière über die Jahrhunderte die Hand zu reichen.
Die phantastischsten Transporteure der großen Idee sind jedoch die Schauspieler: Wie Figurinen einer außer Rand und Band geratenen Spieldose, eingebunden in eine scheinbar zwingende dauernde Bewegung, eilen sie leicht wie Federchen und grenzenlos komisch durch Molières Verwirrspiel. Joachim Meyerhoff, mit zerzaustem Perückenhaar und allzeit behandlungsbereitem Hosenlatz formt seinen Argan mit ungeheurem Sprachwitz und einer wunderbar abstrusen Körperlichkeit. An seiner virtuosen Feindbegegnung mit dem Cembalo hätte Jacques Tati große Freude gehabt! Als kluges Dienstmädchen Toinette sprang kurzfristig Markus Meyer für die verunfallte Caroline Peters ein. Ihm ist nicht nur aufgrund seiner tanzartistischen Einlagen zu gratulieren, sein falscher Arzt im Trude-„Weil ich so sexy bin“-Herr-Jargon ist berückend. Hochaufragend ist die rosa Rokokofrisur der intriganten Gattin Bélinde, die Dorothee Hartinger kunstfertig mit konsequent falscher Betonung ausstattet. Ferngesteuert wie nach einem heftigen (Barock?-)Clubbing flattert eine tolle Marie-Luise Stockinger durch die Szenerie. Als Argans Töchterchen Angélique möchte sie lieber den Schauspieler Cléanthe (Laurence Rupp gibt ihn als Sprach-Sohn aus Kaisermühlen!) als Dr. Diafoirus’ (der grandiose Ignaz Kirchner) spießigen Spross Thomas (Simon Jensen, ein glaubhaftes Ekelpaket) ehelichen. Martha Kizyma (Schwesterchen Louison), Johann Adam Oest als Leibarzt Purgon und Hermann Scheidleder als Notar und Apotheker ergänzen ein Ensemble, dessen spürbare Spielfreude zu stürmischem Applaus allen Anlass gab.