Imposanter Bildband von Erich Lessing: „Ungarn 1956“
Wien (APA) - Rauchende Aufständische, die Bilder des ungarischen kommunistischen Diktators Matyas Rakosi verbrennen: Die Bilder von Erich Le...
Wien (APA) - Rauchende Aufständische, die Bilder des ungarischen kommunistischen Diktators Matyas Rakosi verbrennen: Die Bilder von Erich Lessing von der ungarischen Revolution 1956 versetzen den Betrachter sofort mitten ins Geschehen. „Ungarn 1956“, das zum Anlass des 60. Jahrestags im kommenden Jahr erschienen ist, versammelt nun diese Fotos des österreichischen Fotografen in einem aufwändigen Bildband.
Das großformatige Werk beginnt mit einer ausführlichen Einleitung des österreichischen Historikers Michael Gehler über Vorgeschichte und Ablauf jener Ereignisse, die den Hintergrund der Fotografien bilden. Ein Schwerpunkt Gehlers liegt dabei auf der Rezeption der revolutionären Vorgänge in Österreich. Ergänzt wird dieser historische Teil durch eine ausführliche Chronologie sowie eine Literaturliste am Ende des Bandes.
Im Kern lässt das Buch dann Lessings Bilder - mit kurzen Erklärungen - ganz für sich sprechen. Besonders spannend ist, dass der Fotograf sich bereits in den Monaten vor dem Oktober-Aufstand in Ungarn aufhielt und im ersten Teil des Bandes zahlreiche Alltagseindrücke vom Vorabend liefert, die von scheinbarer bäuerlicher Idylle bis zu angespannten Gesichtern in Arbeiter- und Intellektuellendiskussionen reichen.
Nach dem Ausbruch der Revolution am 23. Oktober lassen dann Lessings Fotos die Ereignisse unmittelbar miterleben. Er konzentriert sich ganz auf das spontane Dokumentieren von Eindrücken, ohne die Teilnehmer der Auseinandersetzungen zu heroisieren oder zu verteufeln. Tote sowjetische Soldaten oder gelynchte Geheimpolizisten finden auf den Bildern genauso ihren Platz, wie junge Revolutionäre mit mal hoffnungsvollen, mal angespannten Gesichtern. Ein besonderes Interesse des Fotografen gilt den Bemühungen der Bevölkerung, auch inmitten der Zerstörungen zu überleben. In manchen Moment blitzt sogar Humor auf, etwa auf dem Foto eines Mannes, der mitten im revolutionären Budapest mit Skiern in der Hand spazieren geht.
Den Abschluss des Bandes bilden Eindrücke Lessings aus dem Budapest des Jahres 1998, als er mehrere bedeutende Schauplätze wieder besuchte und auch einige wichtige Persönlichkeiten von 1956 bzw. deren direkte Angehörige porträtierte.
Während Lessings Fotos die eindeutige Stärke des Buches bilden, bleiben an den Textteil manche Anfragen zu stellen, insbesondere was die Sorgfalt betrifft. So sind zahlreiche ungarische Namen falsch geschrieben; im Fall des Politikers György Marosan wurde sogar sein Vor- mit seinem Nachnamen verwechselt. Es fehlt auch eine zumindest kurze Schilderung von Lessings Aufenthalten in Ungarn und den Entstehungsumständen seiner Bilder.
Auch die Entscheidung, die historische Chronologie mit der - eigentlich wenig bedeutenden - Jakobinerverschwörung von 1794 beginnen zu lassen, darf tunlichst hinterfragt werden. Wollte man auf die Geschichte ungarischer Freiheitskämpfe hinweisen, hätten sich der anti-habsburgische Thököly-Aufstand im 17. und insbesondere der Rakoczi-Aufstand im frühen 18. Jahrhundert weit eher angeboten. Für die unmittelbare Vorgeschichte der Revolution wäre dagegen das Jahr 1945 das bessere Beginndatum gewesen.
Ein besonderes Fauxpas ist den Redakteuren bei der Bildunterschrift auf Seite 226 unterlaufen, wo es heißt: „Das Denkmal für die ‚Ungarischen Helden‘, geschaffen von Istvan Kiss, steht heute am Abhang unter dem Schlossberg in Budapest“. Die abgebildete Figurengruppe hat allerdings mit 1956 nichts zu tun, sondern wurde bereits 1961 (!) geschaffen, in Erinnerung an den 1514 hingerichteten Bauernführer György Dozsa. (Die Gedenkstätte für 1956 am Budapester Stadtwäldchen wurde erst 2006 errichtet und ist im Buch nicht abgebildet.)
„Ungarn 1956“ bietet insgesamt in einem bibliophilen Rahmen eindrucksvolle visuelle Einblicke in einen dramatischen Moment der europäischen Geschichte. Das entschädigt auch für die kleineren und größeren Fehler und Probleme des Textteils.
( S E R V I C E: Ungarn 1956. Aufstand, Revolution und Freiheitskampf in einem geteilten Europa. Erzählt in Bildern von Erich Lessing und Texten von Michael Gehler. Tyrolia 2015. 272 S. 34,95 Euro )