Film und TV

Kreischen gegen das frühe Leid

Mit Archivmaterial und Kommentaren von Verwandten und Musikern rekonstruiert Amy Berg in „Janis: Little Girl Blue“ die Tragödie einer Rock-Ikone.

Von Peter Angerer

Innsbruck –Kurz vor ihrem Tod am 4. Oktober 1970 besuchte Janis Joplin ohne Einladung das Zehn-Jahres-Jubiläum ihrer Highschool-Abschlussklasse in Port Arthur. Mit dem Weltstar kamen Kameras, die dem texanischen Provinzkaff einen zwiespältigen Ruhm bescherten, denn die bizarre Inszenierung folgte einem infantilen Racheritual. Es waren nur Erniedrigungen, die Janis als Erinnerungen an ihre Schulzeit speichern konnte. Ihre schlimmste Demütigung gibt es sogar als Dokument in der College-Bibliothek von Austin. Dort wurde Janis zum „hässlichsten Mann“ gewählt und als solcher auf dem Cover der Studentenzeitung präsentiert. Ähnliche Erfahrungen macht in Brian De Palmas Adaption von Stephen Kings „Carrie – Des Satans jüngste Tochter“ (1976) eine Schülerin, die beim Abschlussball zur Ballkönigin erkoren wird. Um nicht wie Carrie zur Amokläuferin zu werden, greift Janis zu Southern Comfort und Drogen, die in den Sechzigerjahren in San Francisco großzügig verteilt werden. Außerdem ist die Stadt dabei, „sich dem Rock’n’Roll hinzugeben“. Nur die von den Eltern beim Abschied ausgestellte Prognose – „Gefängnis oder Tod“ – liegt als schwerer Mantel auf den Schultern der pummeligen Rebellin, während die heraufziehende Flower-Power-Ära nach leichten Kostümen verlangt.

Es sind diese Archivbilder über das Leben in der Provinz mit den von Hass erfüllten Bewohnern, von denen viele dem Ku-Klux-Klan nahestehen, die erklären, warum sich die Dokumentarfilmerin und politische Journalistin Amy Berg für die Biografie von Janis Joplin interessiert hat und wie sich ihr Film „Janis: Little Girl Blue“ in ihr Gesamtwerk über Polit- und Justizskandale einfügt. Ihre Recherche „Erlöse uns von dem Bösen“ (2006) über die Vertuschungsstrategien der römisch-katholischen Kirche bei Missbrauchsvorwürfen wurde mit einer Oscar-Nominierung belohnt. Bei „Janis“ verfolgt Berg die seelischen Narben, die von den Schmerzen und Tränen eines heranwachsenden Mädchens erzählen, das sich später mit Schreien und Kreischen zu wehren versuchte. Für diesen tödlich endenden Heilungsversuch mit schrillen Beschwörungsformeln samt vergifteten Beigaben blieben der Sängerin mit der „schwarzen Stimme“ genau drei Jahre.

Nach ersten Auftritten mit der Band Big Brother and the Holding Company in den Klubs der Beatnik-Szene von San Francisco kam 1967 der Ruhm wie ein Tsunami über Janis Joplin. Beim ersten Open-Air-Festival in Monterey trat sie ohne Gage auf, weigerte sich aber, eine Verzichtserklärung für D. A. Pennebakers Filmdokumentation zu unterschreiben, weshalb von dieser sensationellen Show beinahe nur der Bericht des Musikjournalisten Greil Marcus geblieben wäre. „Kaum eine Minute nach dem Aufritt“, schrieb Marcus, „trägt sie nicht nur ihr Herz auf der Zunge: Sämtliche inneren Organe sind um ihren Körper drapiert wie eine grässliche neue Haut. Aus ihren Poren sickert Blut; überall brechen Stigmata auf.“ Nur Joplins Manager erahnte die Möglichkeiten des Musikfilms und überredete die Sängerin, zwei Tage später „Ball’n’Chain“ noch einmal zu singen.

Beim Woodstock Festival – zwei Jahre später – verschwand Joplin nach dem Genuss von reichlich Whisky in einer Toilette, um sich dort zusätzlich Heroin zu spritzen. Ihren anschließenden Auftritt ließ ihr Management aus der legendären Musikdokumentation entfernen, der nun bei Amy Berg als tragischer Abgesang auf einen Star zu sehen ist. Einige Tage vor ihrem Tod nahm Joplin Kris Kristoffersons „Me and Bobby McGee“ auf, um es diesem „Hurensohn zu zeigen“. Die posthum erschienene Sin­gle der 27-Jährigen wurde die erfolgreichste ihrer Karriere. Das letzte Wort kommt von John Lennon. Als Gast in Dick Cavetts Talkshow wundert er sich, warum niemand nach den Ursachen der Drogensucht fragt. Amy Berg tut es.

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