Christian Wulff: “Abschottung ist keine Möglichkeit“
Der deutsche Ex-Bundespräsident Wulff ruft dazu auf, das Miteinander in Europa zu verteidigen. Die Türkei müsse Verantwortung übernehmen.
Herr Wulff, besteht Ihrer Meinung nach die Gefahr, dass der Schengen-Raum zerfällt?
Christian Wulff: Unbestreitbar nehmen nationalistische Tendenzen zu, das Verantwortlichkeitsgefühl für das Gemeinsame ist in Gefahr geraten. Dabei gibt es die Möglichkeit der Abschottung nicht, die Menschen müssen sehen, dass wir Profiteure des Welthandels, der offenen Grenzen und der Weltoffenheit sind. Das muss uns einen.
Könnte die hohe Anzahl an Flüchtlingen zu einem ökonomischen Problem für Europa werden?
Wulff: Jordanien hat mit seinen 4,5 Einwohnern über eine Million Flüchtlinge aufgenommen. Das sind 20 Prozent mehr Menschen zur vorhandenen Bevölkerung. Daher sind drei oder vier Millionen Flüchtlinge in Europa für mich nicht in erster Linie eine ökonomische Frage. Wichtiger scheint mir zu sein, dass diese Menschen in ihrer Heimat leben wollen und auch leben können sollen. Das heißt, es muss zu einer Beendigung des Syrienkrieges, zu Frieden in dieser Region und zu einem Vertrag Europas mit den wichtigsten Herkunftsländern kommen. Man muss den Ländern eine Entwicklungsperspektive geben, damit die Fluchtursachen bekämpft werden und keine Flucht mehr stattfindet.
Halten Sie Obergrenzen für eine geeignete Lösung in der Flüchtlingsfrage?
Wulff: Dazu werde ich nichts sagen. Es ist aber absolut wünschenswert, dass alle daran mitwirken, die europäischen Außengrenzen zu schützen, das Schengen-Abkommen ernst zu nehmen und sich um europäische Lösungen zu bemühen. Die Türkei muss eine viel größere Verantwortung übernehmen und Europa muss die Türkei auf gleicher Augenhöhe behandeln. Man muss die Kontakte vertiefen und die Verbindungen verbessern. Man hat der Türkei zu geringe Bedeutung geschenkt und deswegen auch einen bestimmten Nationalismus in der Türkei befördert — das hätte nicht sein müssen.
Sie sagen, Europa entwickelt sich vom Subjekt zum Objekt des Weltgeschehens.
Wulff: Quantitativ werden wir an Bedeutung verlieren, weil die Weltbevölkerung weiter- wächst und der Anteil Europas daran zurückgeht. Aber die Geschichte Europas ist eine der größten Vorteile, die wir haben, weil wir Erfahrungen gemacht haben mit Aufklärung, Pluralismus, friedlichem Zusammenleben verschiedener Nationen. Das Miteinander von Muslimen und Christen in Europa ist ein ganz wichtiger Aspekt, den wir verteidigen müssen. Es gibt Strategiepapiere, die bei der Al-Kaida gefunden wurden, in denen steht, dass man die europäische zivilisierte Gesellschaft spalten will, und das dürfen wir nicht zulassen.
Ihr Rücktritt vom Amt des Bundespräsidenten ist vier Jahre her, vom Vorwurf der Vorteilnahme wurden Sie freigesprochen. Bereuen Sie Ihren Rücktritt?
Wulff: Mein Rücktritt war notwendig, weil in dem Moment die Staatsanwaltschaft die Aufhebung der Immunität beantragt hatte, und als Bundespräsident muss man sich voll auf die Aufgabe konzentrieren können. Ich war unheimlich gerne Bundespräsident, aber jetzt bin ich unheimlich gerne Alt-Bundespräsident, Rechtsanwalt, Berater in anderen Ländern und Familienvater.
Das Gespräch führte Carina Engel