Opfer der deutschen Colonia Dignidad in Chile fordern Gerechtigkeit
Santiago de Chile (APA/AFP) - Es ist 18 Jahre her, seit Winfried Hempel aus der berüchtigten Sektensiedlung Colonia Dignidad in Chile entkam...
Santiago de Chile (APA/AFP) - Es ist 18 Jahre her, seit Winfried Hempel aus der berüchtigten Sektensiedlung Colonia Dignidad in Chile entkam. Albträume hat er noch heute. „Ich kann an diesem Ort immer noch das Leid der Menschen riechen“, sagt der 38-Jährige über den Ort seiner Kindheit. Die von deutschen Auswanderern gegründete Kolonie sei „eine der schlimmsten Sekten in der Geschichte der Menschheit“ gewesen.
Heute ist Hempel Rechtsanwalt und arbeitet im Namen von 120 ehemaligen Koloniebewohnern an zwei Sammelklagen gegen Chile und Deutschland. Er wirft beiden Staaten vor, die Schreckensherrschaft von Sektenchef Paul Schäfer und den sexuellen Missbrauch von Kindern jahrelang zugelassen zu haben. Von Chile verlangt er Entschädigungszahlungen in Höhe von einer Million Dollar pro Kläger. Der Bundesrepublik wirft er vor, den deutschen Staatsbürgern nicht zu Hilfe gekommen zu sein.
Gegründet wurde die Kolonie im Jahr 1961 von dem nach dem Zweiten Weltkrieg aus Deutschland geflohenen früheren Wehrmachtsgefreiten Schäfer und 300 Getreuen. Zeitweise lebten in der sektenartig organisierten Siedlung in einer Bergregion nahe der südchilenischen Stadt Parral hunderte deutsche Auswanderer und ihre Familienangehörigen.
Nach außen hin wurde die Kolonie als landwirtschaftliches Vorzeigeprojekt präsentiert. Doch hinter der idyllischen Kulisse missbrauchte Schäfer über drei Jahrzehnte Kinder und unterwarf seine Anhänger einem brutalen System der Unterdrückung - mit strengen Regeln, harten Strafen, Psychoterror und Indoktrination. Alles im Namen „eines dummen und fanatischen Christentums“, wie Hempel sagt. „Es gab einen Gott, der hieß Schäfer“.
Kinder wurden in der Siedlung von ihren Familien getrennt. Er selbst habe seine Eltern erst im Alter von zehn Jahren kennengelernt und auch dann erst seinen vollständigen Namen erfahren, berichtet Hempel. Dieses System habe die Kinder zu leichten Opfern gemacht. Sie hätten in der Kolonie wie „in einer Versuchsanstalt“ gelebt. „Wir hatten absolut keine Chance, uns darüber klar zu werden, wer wir eigentlich sind“.
Während der Militärdiktatur von Augusto Pinochet (1973-1990) diente die Deutschensiedlung auch als Folterlager. Politische Gefangene wurden auf das weiträumige Gelände der Kolonie verschleppt und dort zu Tode gefoltert.
Im Jahr 2005 wurde Sektengründer Schäfer, der 1997 nach Argentinien geflohen war, gefasst und nach Chile überstellt. Dort wurde er 2006 wegen Mordes, sexuellen Missbrauchs und Folter zu 20 Jahren Haft verurteilt. Er starb 2010 im Alter von 88 Jahren im Gefängnis.
Seine Siedlung aber existiert bis heute. Sie hat sich in Villa Baviera („Bayerisches Dorf“) umbenannt und wirbt mit einem Hotel und einem Restaurant um Touristen. Die 160 überwiegend älteren Bewohner pflegen noch immer bayerisches Brauchtum, in der Mitte des Dorfes weht eine deutsche Flagge. Ehemalige Opfer Schäfers sind darüber entsetzt. Sie wünschen sich stattdessen eine Gedenkstätte, die an ihr Leid erinnert.
Gabriel Rodríguez lebt in einem Dorf in der Nähe und wurde als Gefangener der rechtsgerichteten Pinochet-Diktatur eine Woche lang in der Colonia Dignidad festgehalten. „An einem Ort, dessen Gedächtnis mit Tod, Folter, Sklaverei und Verstümmelung verknüpft ist, Tourismus zu betreiben, ist für mich eine Fehlentwicklung“, sagt Rodríguez. „Es ist eine Beleidigung für die Erinnerung an die Menschen, die dort gelitten haben und gestorben sind.“
Die heutigen Dorfbewohner wollen dagegen kein Urteil über Sektengründer Schäfer und die schreckliche Vergangenheit der Siedlung fällen. Ein Mann, der sich selbst als „Kolonisten der zweiten Generation“ bezeichnet, sagt, dass nur Gott über Schäfer richten könne. Mit seiner Verurteilung sei er bereits der „irdischen Gerechtigkeit“ zugeführt worden. „Und am Ende gibt es noch die göttliche Gerechtigkeit.“