Tunesien nach Ben Ali - „Eine Demokratie ohne Demokraten“

Wien (APA) - Vor fünf Jahren nahm der „Arabische Frühling“ nach der Selbstverbrennung eines Gemüsehändlers in Tunesien seinen Ausgang. Heute...

Wien (APA) - Vor fünf Jahren nahm der „Arabische Frühling“ nach der Selbstverbrennung eines Gemüsehändlers in Tunesien seinen Ausgang. Heute hat das Land als einziges den Übergang zur Demokratie geschafft. Dies sei vor allem der Schwäche der handelnden Akteure zu verdanken, die sich gegenseitig neutralisieren würden, sagt der Tunesien-Experte Hamza Meddeb im Gespräch mit der APA.

Dennoch erschütterten vor wenigen Tagen erneut Unruhen desillusionierter Jugendlicher weite Teile des Landes. Eine schwierige Ausgangslage, eine unfähige Verwaltung, fehlende Reformen und die allgegenwärtige Korruption hätten eine „verlorene Generation“ ohne Zukunftsperspektiven erzeugt, erklärt Meddeb. Dies treibe die Jugendlichen nicht nur auf die Straße, sondern auch in die Arme von Terrormilizen wie dem „Islamischen Staat“ (IS). Tunesien wurde zuletzt nicht nur im Inneren von schweren Terroranschlägen getroffen, sondern exportiert auch mehr Kämpfer als jedes andere Land in den Jihad nach Syrien, den Irak und zuletzt vor allem ins Nachbarland Libyen.

Einer westlichen Militärintervention in Libyen, wie sie zuletzt vor allem die USA, Großbritannien und Frankreich erwägten, steht Meddeb deshalb skeptisch gegenüber. Diese könnten „dem IS großen Zulauf bescheren“, die Konsequenzen für Tunesien wären „katastrophal“, glaubt er.

Das Interview im Wortlaut:

APA: Tunesien gilt als Musterland des „Arabischen Frühlings“, dennoch gab es vor wenigen Tagen erneut Demonstrationen und Ausschreitungen, bis heute ist in Teilen des Landes eine nächtliche Ausgangssperre in Kraft. Ist die Erfolgsgeschichte Tunesiens nur ein Märchen?

Meddeb: Man muss vorsichtig sein mit dieser Erfolgsgeschichte: Sie verschleiert nämlich eine wichtige Triebfeder der Demonstrationen für sozialen Wandel in Tunesien: die Frage der sozialen Gerechtigkeit, die es bis heute nicht gibt. Unter den Jugendlichen sind aktuell 40 Prozent arbeitslos und beim Großteil von ihnen handelt es sich um Universitätsabgänger. Jedes Jahr suchen 140.000 junge Menschen zusätzlich einen Job, der Arbeitsmarkt kann aber nur 60.000 von ihnen aufnehmen. Damit alle eine Beschäftigung hätten, bräuchte Tunesien eine Wachstumsrate von sieben bis zehn Prozent, 2015 waren es aber nur 0,1 Prozent. Hinzu kommt, dass die neue Regierung ab Ende 2014 anfing, Sozialprogramme zurückzufahren, die viele arbeitslose Jugendliche auffingen, das hat die Wut noch einmal ansteigen lassen.

APA: Hat die Regierung versagt? Oder ist die Ausgangslage einfach furchtbar schwierig?

Meddeb: Natürlich trägt die Regierung einen großen Teil der Schuld, aber wahrscheinlich hätte auch eine andere Regierung versagt. Was es bräuchte, wären strukturelle Reformen, vor allem in der Verwaltung. Die Regierung hat 1,8 Milliarden Dollar an internationalen Hilfen für Infrastrukturprojekte zugesprochen bekommen, das Geld aber bis heute nicht ausgegeben: Weil es an einer administrativen Struktur fehlt, wegen Landproblemen, wegen Korruption, wegen vieler Dinge ...

APA: Die Korruption ist weiterhin ein Problem?

Meddeb: Sie hat sich verschlimmert. Wir sprechen von der „Demokratisierung der Korruption“. Zu Zeiten Ben Alis gab es Korruption in gewissen Bereichen, heute muss man alle bestechen.

APA: Was den demokratischen Übergang betrifft, sind Sie aber dennoch optimistisch?

Meddeb: Was wir in Tunesien sehen ist eine ‚Demokratie ohne Demokraten‘: Man kann nicht wirklich sagen, dass die politische Klasse aus überzeugten Demokraten besteht, aber es gibt ein Gleichgewicht der Schwäche: Weder die Säkularen, noch die Islamisten, noch die Polizei, noch die Armee ist alleine stark genug um die Führung des Landes an sich zu reißen. Es ist ein sehr zerbrechliches Gleichgewicht, dass ein Wiederkehren des Polizeistaates verhindert.

APA: Es gibt durchaus Kritik am Verhalten der Polizei, Menschenrechtsorganisationen sprechen von Misshandlungen und Folter...

Meddeb: Ja, das heißt nicht, dass es keine Übergriffe der Polizei mehr gibt. Nach einem vorübergehenden Rückzug der Polizei zwischen 2011 und 2013 geht sie heute wieder hart gegen Jugendliche vor, vor allem weil der Kampf gegen den Terrorismus nun als Legitimation dafür herangezogen wird. Aber heute gibt es eine starke Zivilgesellschaft, die diese Übergriffe verurteilt, die Verhaftungen von Jugendlichen wegen (der im Land verbotenen, Anm.) Homosexualität oder Konsums leichter Drogen wie Cannabis verurteilt. Bei der letzten Welle an Protesten war auffällig, dass die Polizei sehr vorsichtig war, um die Demonstranten nicht zu verletzen: Sie hatten Angst vor der Zivilgesellschaft, die im heutigen Tunesien wirklich sehr wichtig ist.

APA: Viele der alten Ben Ali-Vertrauten sitzen noch immer an den Hebeln der Macht.

Meddeb: Der tunesische Weg hin zur Demokratie, war ein Weg des Kompromisses. Ein Kompromiss zwischen den Islamisten (Ennahda, Anm.) und nicht wirklich den Säkularen, sondern eigentlich dem alten Regime Ben Alis (Nidaa Tounes, Anm.). Das Problem ist, dass dieser Kompromiss nicht auf Konfliktlösung basiert, sondern auf gegenseitiger Neutralisierung. Nach Jahren von Verfolgung und Gefängnis wollen die Islamisten unbedingt Teil des Systems werden und das alte Regime hat das ausgenutzt. Herausgekommen ist eine doppelte Integration von Islamisten und altem Regime.

APA: Welche Rolle spielt Präsident Beij Caid Essebsi in dem Ganzen?

Meddeb: 2013 als das Lager des alten Regimes die Islamisten der Ennahda von der Macht vertrieb, war Essebsi klar dessen Führungsfigur. Aber seit den Parlaments- und Präsidentschaftswahlen im Herbst 2014 hat er viel an Glaubwürdigkeit und Legitimität verloren. Er versucht wirklich die Macht in seinen Händen zu konzentrieren, auch wenn die neue Verfassung aus dem Jahr 2014 eigentlich einen starken Premierminister als Gegengewicht zum Präsidenten vorsieht. Das gelang ihm durch die Nominierung des Technokraten Habib Essid, der ein sehr schwacher Premier ist. Im Hintergrund zieht Essebsi die Fäden.

APA: Droht Essebsi also zum nächsten autokratischen Herrscher zu werden?

Meddeb: Nein, sicher nicht. Der beste Beweis ist, dass nicht einmal seine eigene Partei hinter ihm steht. Als er kürzlich versuchte, seinen eigenen Sohn zum Parteichef zu machen, traten 30 Parlamentarier aus, mit dem Ergebnis, dass die Ennahda mittlerweile die stärkste Parlamentspartei ist.

APA: Im vergangenen Jahr sind terroristische Anschläge zunehmend zum Problem geworden ...

Meddeb: Ja, das ist auch im Zusammenhang mit der schlechten Wirtschaftslage ein Problem. Bereits jetzt fließen 20 Prozent des Budgets in Polizei und Militär. Der IS greift bewusst prominente Ziele wie das Bardo-Museum in Tunis oder den Strand von Sousse an, um die Regierung zu noch höheren Sicherheitsausgaben zu zwingen. Damit bleibt weniger für Sozialmaßnahmen, was wiederum mehr desillusionierte Jugendliche in die Arme von Jihadisten treibt - es ist ein Teufelskreis. Schon jetzt kann man fast von einer verlorenen Generation sprechen: Jugendliche, die keine Zukunftsperspektive haben, und keine Chance sich weiterzuentwickeln.

APA: Tunesien gilt zudem als das Land, aus dem die meisten „foreign fighters“, also ausländische Kämpfer, in den Jihad nach Syrien, Libyen und den Irak gezogen sind ...

Meddeb: Zur Zahl der Jihadisten aus Tunesien gibt es nur Schätzungen, die UNO ging zuletzt von 5.500 aus. Aber es geht nicht nur um die absoluten Zahlen: Tunesier bekleiden sehr oft hohe Funktionen innerhalb des IS, im syrischen Raqqa, im Irak und besonders in Libyen. Bis 2013 gingen die meisten nach Syrien, seither konzentrieren sie sich hauptsächlich auf Libyen. Deshalb ist in Tunesien auch die Angst vor einer internationalen Militär-Intervention in Libyen groß. Wenn das Gefühl entsteht, der Westen greift die Muslime an, könnte das dem IS großen Zulauf bescheren und die Konsequenzen könnten auch für Tunesien katastrophal sein.

APA: Sie haben kürzlich eine Studie über den Jihadismus in Tunesien veröffentlicht, welche Maßnahmen müsste die Regierung ergreifen, um die Popularität von jihadistischen und salafistischen Ideen zu verringern?

Meddeb: Bisher hat die Regierung noch nicht die richtige Antwort gefunden. Es geht nicht darum, extremistische Tendenzen brutal niederzuschlagen, sondern um Deradikalisierung. Unter Ben Ali gab es ein religiöses Vakuum, das Extremisten nach seinem Sturz ausnutzen und auch unter Essebsi gibt es die Tendenz Religion staatlich zu monopolisieren. Vielmehr bräuchte es aber einen Pluralismus religiöser Ideen, mehr öffentliche Debatten zu Religion und die Bereitschaft moderate Salafisten politisch einzubinden.

S E R V I C E: Hamza Meddeb ist Tunesien-Experte am Nahostzentrum des Politik-ThinkThanks Carnegie. Er beschäftigt sich mit dem politischen Übergangsprozess sowie sozialen Ungleichheiten in Tunesien. Gemeinsam mit Georges Fahimi veröffentlichte er zuletzt die Studie „Market for Jihad. Redicalization in Tunesia“ (Marktplatz des Jihads. Radikalisierung in Tunesien.) In Wien war Meddeb auf Einladung des Vienna Institute for International Dialogue and Cooperation (VIDC).

(Das Gespräch führte Barbara Essig/APA)