Kunst

Atemlos durch die Pracht

© St. Petersburg, Staatliches Russ

Radikale und Rivalen: Die Albertina beleuchtet mit „Chagall bis Malewitsch“ die kurze Epoche der russischen Avantgarden.

Von Ivona Jelcic

Wien –Vor etwas mehr als 100 Jahren, im Dezember 1915, präsentiert Kasimir Malewitsch in St. Petersburg sein „Schwarzes Quadrat“: Es wird zur Ikone des Suprematismus, markiert die völlige Befreiung vom Gegenstand und den Weg zum reinen Empfinden, stellt alles Dagewesene in Frage und alles Kommende auf den Sockel des Neubeginns. Die Kunstkritik ist empört, die Kunstszene um eine Kampfansage reicher: Malewitsch und seine Mitstreiter kennen keinen Kompromiss, schon gar nicht mit Marc Chagalls poetisch-surrealistischer Variante der Avantgarde, die man für altmodisch erklärt. 1920 tritt Chagall als Leiter der Kunstschule in Witebsk zurück, es übernimmt Malewitsch.

Es ist dies einer der prominentesten Richtungsstreits innerhalb der russischen Avantgarden, aber bei Weitem nicht der einzige. Die Atemlosigkeit, mit der zwischen 1910 und 1920 Künstlervereinigungen und Schulen gegründet sowie Programme ausgerufen werden, ist bemerkenswert. Angesichts der Flut an Ismen – vom Neoprimitivismus über Rayonismus, Kubofuturismus, Konstruktivismus zu Suprematismus – könnte einem schwindlig werden. Zumal sich hier nicht eins nach dem anderen, sondern in zum Teil heftig rivalisierender Parallelität vollzieht.

Die Geschichte wird denn zeigen: Man hatte ja auch nicht viel Zeit. Nach der Machtergreifung Stalins 1924 bleiben nur Repression – oder die Zuwendung zur mittels Parteibeschluss von 1932 einzig gebilligten Richtung: dem Sozialistischen Realismus. Der Fokus der Albertina liegt auf den Jahren zuvor: nämlich auf Dynamik und Potenz der russischen Avantgarden, die in beeindruckender Dichte gezeigt werden, was u. a. der Kooperation mit dem Staatlichen Russischen Museum in St. Petersburg zu verdanken ist, aus dessen Sammlung ein großer Teil der rund 130 gezeigten Werke stammen. Aber auch anderswo lieh man Meisterwerke, etwa im Amsterdamer Stedelijk Museum, woher Chagalls berühmter „Geigenspieler“ von 1912 stammt.

Für die vielen Facetten der Epoche steht nicht zuletzt die Kunst von Wassily Kandinsky, dem eigentlichen Pionier der Abstraktion und – Stichwort „Blauer Reiter“ – Bindeglied zur westeuropäischen Moderne: Auch seine Kompositionen entziehen sich der Schwerkraft, bleiben aber trotzdem völlig konträr zu den Farbfeldern der Suprematisten.

Gegensätze und radikale Brüche – auch innerhalb einzelner Œuvres – zu zeigen, ist das Ausstellungs-Programm: So werden einem etwa gleich eingangs anschaulich die stilistischen Sprünge eines Iwan Kljun, Natan Altman oder Wladimir Lebedew serviert, bei Letzterem geht der Weg von kubistischer Formzerlegung zurück zu frankophilem Wäscherinnen-Impressionismus, dies wohlgemerkt bereits unter der Stalin-Diktatur.

Das Avantgarden-Jahrzehnt war vom Geist der Oktoberrevolution 1917 beflügelt und brachte mit dem Agitprop auch die Verbindung neuer Kunstformen mit der Propaganda für die kommunistische Ideologie hervor.

Malewitsch wird in den 1930ern mit Bildern von gesichtslosen Bauern auf Enteignung und Kollektivierung reagieren. Vom Sowjetstaat gebilligt wird lediglich seine ins ungewisse reitende „Rote Kavallerie“: Er hat sie auf 1918 zurückdatiert.