Schwindelerregend und süchtig machend: Tom McCarthys „Satin Island“
Wien (APA) - „Das ist irgendwie abgefuckt“, heißt es irgendwo in Tom McCarthys nun in deutscher Übersetzung veröffentlichten Roman „Satin Is...
Wien (APA) - „Das ist irgendwie abgefuckt“, heißt es irgendwo in Tom McCarthys nun in deutscher Übersetzung veröffentlichten Roman „Satin Island“. Das fasst ganz gut das schwindelerregende Konglomerat an Gedanken zusammen. Auch wenn das Buch nur knapp über 200 Seiten hat, steckt eine ganze Menge drin. Und über die darf man staunen, grübeln, nachdenken, schmunzeln oder fassungslos den Kopf schütteln.
Der ehemalige Zeitschriftenredakteur, Skriptautor für das Fernsehen und Magazin-Mitherausgeber McCarthy wird seit seinem ersten Roman „Remainder“ (2005) als britischer Thomas Pynchon gefeiert, in einem Atemzug mit James Joyce und Samuel Beckett genannt und mit David Foster Wallace oder Don DeLillo verglichen. In „Satin Island“ spielt er meisterlich mit Sprache, Symbolik und Satzbau. Manche Sätze - auf ersten Blick wirr und doch herrlich tollkühn - mäandern über halbe Seiten. Da bleibt einem bisweilen regelrecht die Luft weg. Aber man wird süchtig danach.
„Ereignisse! Sind Sie hinter solchen her, hören Sie am besten gleich auf zu lesen“, empfiehlt der Erzähler, der U genannt werden will, seinen Lesern. So etwas wie eine Handlung im klassischen Sinn gibt es in „Satin Island“ nicht. Dafür tut sich aber recht viel: Als scrolle man durch Soziale Netzwerke oder Newsportale, poppen in kurzen Intervallen Gedanken zu verschiedensten Themen auf - vom Turiner Leichentuch über Ölkatastrophen bis zur Krebserkrankung eines Arbeitskollegen, die U eher analytisch als emotional betrachtet.
U ist Anthropologe, oder besser: Repräsentant der von ihm erfundenen Präsens-Anthropologe. „Verwandtschaftsstrukturen; Tauschsysteme, Geschenk und Gegengeschenk; symbolische Operationen, die auf der Kehrseite des Habituellen und des Banalen lauern: diese zu identifizieren, herauszulösen und, während sie zappeln und sich winden, gegen das Licht halten - das ist mein Job.“ Für einen dieser kalten modernen Großkonzerne („die ganze Firma funktioniert über Angst“) arbeitet U, er soll für seinen Chef Peyman den „großen Bericht“ - „Das erste und letzte Wort über unser Zeitalter“ - schreiben.
„Schreib alles auf“, lautete das Oberste Gebot von Bronislaw Malinowski, dem Vater der modernen Anthropologie, wie U belehrt. Und so schreibt auch U alles auf, was ihn gerade beschäftigt, pinnt Internetausdrucke an die Wand seines Büros (im Keller angesiedelt mit einem Belüftungssystem, dem er mehrere Seiten Beschreibung widmet). Wenn U über Erlebnisse mit Menschen aus seinem Umfeld berichtet, sind diese Anekdoten und Gespräche bizarr. Man sollte sich „Satin Island“, der Mischung aus Fantasien, Träumen, Fakten, Visionen und Enthüllungen, unbedingt mit der nötigen Portion Humor nähern.
(S E R V I C E - „Satin Island“ von Tom McCarthy, aus dem Englischen von Thomas Melle, Deutsche Verlags-Anstalt, 224 S., 20,60 Euro)