Verschärfte Kontrolle an der Ägäis - die Türkei vor dem EU-Gipfel

Ankara/Ayvacik (APA/dpa) - Das Ufer im westtürkischen Ayvacik ist verlassen. Knallorange Schwimmwesten sind verstreut - Überbleibsel von den...

Ankara/Ayvacik (APA/dpa) - Das Ufer im westtürkischen Ayvacik ist verlassen. Knallorange Schwimmwesten sind verstreut - Überbleibsel von denen, die ihr Glück in Europa versuchen wollten. Im Kies liegen eine Kinderjacke, Plastikflaschen, Decken und ein Paddel. „Flüchtlinge? Hier sind keine mehr“, sagt Ahmet Razim, der in einem Hotel arbeitet.

Vor etwa vier Monaten war das noch anders. Mehrmals täglich starteten Flüchtlinge von der Küste Ayvaciks zur griechischen Insel Lesbos - völlig unbehelligt von den türkischen Sicherheitskräften. „Die Flüchtlinge konnten quasi winkend vorbeifahren“, erzählt Razim. Seit etwa zwei Monaten kontrolliere die Polizei jedoch schärfer. Ein europäischer Diplomat, der eine Woche lang die türkische Westküste abreiste, bestätigt das. In der Öffentlichkeit seien kaum noch Flüchtlinge zu sehen.

Einwohner erzählen, warum das so ist. Der Besitzer einer Pension im Ort Ayvacik sagt, die Polizei habe ihm verboten, Flüchtlinge aufzunehmen. „Sie halten mir ihren Pass vor die Nase, sie frieren, sie haben Hunger und brauchen ein Bett, aber ich darf sie nicht reinlassen“, sagt er. Tue er es doch, drohten im Geldstrafen und der Entzug seiner Lizenz. Deshalb mag er auch seinen Namen nicht nennen. „Wo bleiben da die Menschenrechte?“, fragt er.

Nach Angaben des Bürgermeisters von Ayvacik, Mehmet Ünal Sahin, hat Ankara die Polizei in der Gegend verstärkt. Viele Migranten würden schon im Norden auf ihrem Weg von Istanbul an die Westküste abgefangen und zurückgeschickt. Ein Busfahrer aus der ebenfalls an der Westküste liegenden Stadt Dikili sagt, er dürfe niemanden mehr mitnehmen, der Schwimmwesten bei sich trage.

Überwachung, Verbote, Rückführungen - es scheint, als setze die Türkei die Forderung der EU nach mehr Grenzkontrolle um. Im November hatte das Land bei einem Gipfel versprochen, Flüchtlinge aufzuhalten, die nach Europa wollen. Im Gegenzug soll die Türkei drei Milliarden Euro und politische Zugeständnisse erhalten. An diesem Donnerstag und Freitag beraten die Staats- und Regierungschefs der Europäischen Union bei einem EU-Türkei-Gipfel in Brüssel über weitere Maßnahmen.

Erst vergangene Woche sank jedoch wieder ein Flüchtlingsboot vor Ayvacik - fünf Menschen ertranken. Auch die Zahlen zeigen eine unveränderte Situation: Anfang März kamen nach Angaben des Flüchtlingshilfswerks UNHCR knapp 19.000 Migranten über das Meer nach Griechenland - mehr als doppelt so viele wie im Vorjahreszeitraum. Auch der NATO-Einsatz zwischen Lesbos und der türkischen Küste machte bisher keinen Unterschied. Seit Beginn des Einsatzes vergangene Woche kamen auf Lesbos 5.135 Menschen an, in der Woche davor waren es 5.117.

Den Bürgermeister von Ayvacik überrascht das nicht. Die schärferen Kontrollen führten lediglich dazu, dass sich die Menschen neue Routen suchten, sagt Sahin. Die Flüchtlinge wollten nicht in der Türkei bleiben. „Sie finden wieder einen Weg und gehen erneut“, sagt er. Auch ein Einsatz gegen Schlepper sei keine Lösung. Selbst wenn man alle festsetze, bringe das nichts. Dann würden die Flüchtlinge ihre Überfahrt eben selbst organisieren. Daher dürfe das Ziel nicht sein, die Migration zu stoppen, sondern vielmehr zu kontrollieren. „Europa muss so viele Migranten aufnehmen, wie es unterbringen kann“, fordert Sahin.

Dikili, rund 140 Kilometer südlich von Ayvacik, war vor ein paar Monaten ebenfalls noch ein Drehkreuz für Flüchtlinge. Nun sitzen am Hafen nur ein paar Einheimische und trinken Tee. Zivilpolizisten patrouillieren - zu erkennen an den knisternden Funkgeräten.

Seit etwa einem Monat seien die Kontrollen schärfer und die Polizei frage Passanten immer wieder nach Papieren, erzählt Mehmet O.. Der 28-Jährige ist in Dortmund aufgewachsen und betreibt ein Fischrestaurant in der Stadt. Dennoch schaffen es immer wieder Migranten auf die Boote. „Etwa alle zwei Tage bringt die Küstenwache etwa 400 bis 500 Flüchtlinge zurück“, sagt O.. Sie würden zur Abnahme von Fingerabdrücken in eine Sporthalle auf einen Hügel gebracht.

Am Sonntag protestierten Flüchtlinge dagegen. Sie steckten Decken in Brand, wie Anwohner erzählen. Daraufhin habe die Polizei die Migranten zurück in die Küstenstadt Izmir gebracht.

Mehmet, ein 51 Jahre alter Kioskbesitzer, ist sich sicher, dass die Flüchtlinge wiederkommen werden. Sie seien in der hügeligen Küstenregion einfach schwer zu finden. „Sie verstecken sich in den Olivenhainen und in den Feldern und bei der nächsten Gelegenheit setzen sie über nach Griechenland.“