Ein halbes Jahr VW-Skandal - Konzern zittert sich zur Wahrheit

Wolfsburg (APA/dpa) - Beim Schuldeingeständnis ist die Sache schon eindeutig. „Wir haben das wichtigste Teil unserer Autos kaputt gemacht: I...

Wolfsburg (APA/dpa) - Beim Schuldeingeständnis ist die Sache schon eindeutig. „Wir haben das wichtigste Teil unserer Autos kaputt gemacht: Ihr Vertrauen“, schrieb der deutsche Autokonzern Volkswagen im Herbst. Ein halbes Jahr nach dem Ausbruch der Abgas-Krise ist klar: Nicht nur das Vertrauen muss VW richten.

Für VW dauerte der Wandel vom Vorzeige-Unternehmen zum tief verunsicherten Konzern nur wenige Tage. Am 18. September 2015 machten US-Behörden die Abgas-Affäre öffentlich, nachdem der Autobauer über viele Monate hinweg Antworten schuldig geblieben war.

Vorstandschef Martin Winterkorn, der kurz zuvor bei der Automesse IAA die modernen Antriebe der Wolfsburger noch als „Quantensprung für unsere Industrie“ gen Himmel gehoben hatte, fiel nur Tage nach dem Auffliegen des Skandals auf die Knie. „Es tut mir unendlich leid“, sagte er am 22. September. Einen Tag später trat er dann „fassungslos“ zurück: „Volkswagen war, ist und bleibt mein Leben.“

Sechs Monate sind seither vergangen - und die Ereignisse haben sich weiter überschlagen. Der Kurs der VW-Vorzugsaktie halbierte sich in der Spitze fast. Die Verträge von über 1.000 Leiharbeitern laufen aus. Der Diesel steht branchenweit in Misskredit. Und der Rückruf von Millionen betroffenen Autos aus dem Konzern startet nur schleppend.

Die Vereinigten Staaten haben VW verklagt, es drohen milliardenhohe Strafen. Zudem klagen Kunden, Händler, Wettbewerber, Anleger. Und die Affäre ist inzwischen auch in der Stammbelegschaft angekommen: VW will mehr als 3.000 Bürojobs streichen, die Investitionen sind um 1 Mrd. Euro pro Jahr gekappt, der Sparkurs ist verschärft.

Selbst die Neuauflage des VW-Flaggschiffs Phaeton ist gestrichen. Und die T-Shirts für die VW-Bandarbeiter stehen ebenso zur Disposition wie die Kekse im VW-Catering für interne Besprechungen. Jüngst warf Volkswagens US-Chef Michael Horn das Handtuch. Bei einer Anhörung im US-Kongress hatte man ihn nach Wünschen für die Knastlektüre gefragt.

Was VW im offiziellen Sprachgebrauch fast schon betont nüchtern die „Dieselthematik“ nennt, ist weitaus mehr für Deutschlands größten Konzern. Es geht um die Zukunftsfähigkeit des ganzen Unternehmens.

Zudem wird VW überrollt vom Anspruch auf Wahrheit. Neben Gerichten und Behörden in den USA ermittelt ein Untersuchungsausschuss im EU-Parlament, das Bundesverkehrsministerium hat auch ein Gremium, die Staatsanwaltschaft ist sowieso schon aktiv, Großinvestoren verklagen das Unternehmen in Braunschweig auf bisher mehr als 3,7 Mrd. Euro. Der Konzern selbst untersucht sich mithilfe der US-Kanzlei Jones Day. Tag der Wahrheit? In der zweiten April-Hälfte.

102 Terabyte an Daten sind laut VW insgesamt sichergestellt worden. Das entspricht etwa 7.800 Digitalausgaben des Brockhaus-Lexikons in 30 Bänden. Die Beraterfirma Deloitte durchforstet den Datenwust, Jones Day greift darauf zurück, ermittelt ergänzend konzernintern und befragt - oder besser: verhört - einzelne Mitarbeiter und Manager.

Langsam beginnen die vielen Puzzleteile auch ein Bild zu ergeben. Teile zur Version der Geschehnisse, wie Volkswagen sie darstellt, lassen sich zum Beispiel in einem Gerichtsdokument nachlesen, das der Deutschen Presse-Agentur vorliegt. Es ist die Erwiderung der Konzernanwälte auf die Vorwürfe von Kapitalanlegern, VW habe die Öffentlichkeit zu spät über das Diesel-Debakel informiert.

Das Schreiben dürfte bedingt ein Vorgeschmack auf den Ermittlungsbericht von Jones Day sein. In dem mehr als hundertseitigen Papier vertreten die Juristen die These, dass VW bis zur Veröffentlichung der Verstöße durch die US-Behörden kaum ahnen konnte, welche Sprengkraft die Vorwürfe tatsächlich haben würden.

Diese Lesart der Geschehnisse passt auch zu der Deutung, die der Konzern seit dem Bekanntwerden der Manipulationen wie eine Monstranz vor sich herträgt: Es handle sich nur um die „schlimmen Fehler einiger weniger“, wie es Winterkorn im September ausdrückte. Eine kleine Gruppe von Ingenieuren habe den Schwindel wohl ausgeheckt - getrieben vom Zeit- und Kostendruck in der Motorenentwicklung.

Demnach wählten VW-Techniker den Ausweg über die illegale Software, weil sie bei den Arbeiten für den Skandalmotor EA189 inzwischen nicht mehr auf legalen Wegen ans Ziel zu kommen glaubten. Das geschah schon im November 2006. Im Vorstand habe niemand Bescheid gewusst.

Stimmt das? Oder ist das eine Schutzbehauptung von VW, um den Konzern und seine Vorstände gegen milliardenschwere Schadenersatz-Forderungen abzuschirmen? Relativ unbestritten ist, dass das Abgas-Desaster 2005 seinen Ursprung hat. Damals beschloss VW eine Diesel-Offensive in den USA. Der bei US-Amerikanern als Traktorantrieb verspottete Selbstzünder sollte salonfähig gemacht werden. Mit dem EA189 sollte ein Motor gebaut werden, der die strengen US-Umweltvorschriften einhalten kann und gleichzeitig nicht allzu teuer in der Produktion ist.

Doch den Technikern gelang dieser Spagat nur mit einem unerlaubten Hilfsmittel: der verbotenen Abgas-Software - auf Englisch „defeat device“. 2006 wurde das Programm internen VW-Dokumenten zufolge ins Umfeld des EA189-Motors eingebaut - und blieb dort lange unerkannt. Die Ingenieure tarnten es übrigens als eine „Akustik-Software“.

Erst 2014 machte die Umweltorganisation ICCT die US-Behörden misstrauisch. Bei einem VW Passat hatten die Experten festgestellt, dass er auf der Straße weit mehr schädliche Stickoxide ausstieß als am Prüfstand. Auch der damalige Chef Winterkorn bekam im Mai 2014 dem Konzern zufolge eine Notiz zu der Studie in seine Wochenend-Post gelegt - inwieweit er sie registrierte, sei „nicht dokumentiert“.

Es dauerte ohnehin noch mehr als ein Jahr, bis VW den Betrug zugab. Immer wieder trafen sich VW-Leute mit Vertretern der US-Behörden, um die Vorwürfe auszuräumen. Ende 2014 machte man zunächst das Angebot, bei einer sowieso geplanten Serviceaktion auch die Motorsoftware neu auszurichten. Danach erklärte VW, „dass das Problem der erhöhten Stickoxid-Emissionen nunmehr behoben sein müsste“, heißt es in der Klageerwiderung. Im Gegenteil stand aber alles Spitz auf Knopf.

Bisher offiziell unbestätigt ist der Verdacht, dass VW-Techniker die verbotene Software damals noch verfeinerten: Sie sollte nun auch den Lenkradwinkel erkennen. Ruht das Steuer - wie im Test der Behörden -, erkennt die Software die Laborsituation. Im Realbetrieb hilft die Winkelerkennung dagegen, den Sparmodus fürs Labor zu vermeiden.

In der zweiten April-Hälfte soll Jones Day mit dem Zwischenbericht Klarheit schaffen. Den klagenden Anlegern beschied VW schon, dass der Vorstand seine Hände in Unschuld wasche und „erst im Sommer 2015“ von der „Dieselthematik“ erfahren habe. Ob sich das halten lässt, dürfte am Ende auch entscheidend für die Höhe der Strafzahlungen sein.

VW-Betriebsratschef Bernd Osterloh warnte erst jüngst: „Sollte die Zukunftsfähigkeit von Volkswagen durch eine Strafzahlung in bisher einmaliger Höhe nachhaltig gefährdet werden, wird dieses auch dramatische soziale Folgen haben.“ Und zwar auch in Deutschland.

Bei Winterkorn-Nachfolger Matthias Müller hört sich das nicht unbedingt viel positiver an. Die Strafzahlungen würden „schmerzhaft“, sagte er vor kurzem. Und: „Wir werden Geduld, Beharrungsvermögen und auch eine gewisse Frustrationstoleranz aufbringen müssen.“

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