In der Türkei geht die Angst geht um
Istanbul (APA) - Chris Stephenson kündigte auf Twitter an, kurz offline zu sein. „Nein zum Krieg“, hatte er wenige Stunden zuvor am Dienstag...
Istanbul (APA) - Chris Stephenson kündigte auf Twitter an, kurz offline zu sein. „Nein zum Krieg“, hatte er wenige Stunden zuvor am Dienstag noch getwittert, bevor er in einem Gericht in Istanbul festgenommen worden, wo er drei der Terrorpropaganda beschuldigte türkische Akademiker unterstützen wollte.
Der britische Informatikdozent von der renommierten Bilgi-Privatuniversität in Istanbul lebte bereits seit 25 Jahre in der Türkei. Nur wenige Stunden nach seiner Freilassung wurde er nach Großbritannien abgeschoben. Der Grund: In seinem Rucksack, so sagte Stephenson, hätten Sicherheitsleute eine Einladung zum kurdischen Neujahrsfest Newroz am Montag gefunden. Die regierungsnahe Tageszeitung „Sabah“ unterstellte ihm, prokurdische Flyer verteilt zu haben.
Der Brite hatte mehrfach auf Twitter zum Frieden in den kurdisch dominierten Gebieten aufgerufen, und immer wieder regierungskritische Artikel in dem Kurznachrichtendienst geteilt. Am Mittwoch twitterte er vom Flughafen aus, dass er gegen seine Ausweisung gerichtlich vorgehen wolle.
Fast zeitgleich am Mittwoch wurden acht prokurdische Anwälte festgenommen, teilte der Anwaltsverband OHO mit. Die Organisation hatte beim Verfassungsgericht gegen die Militäroffensive gegen die verbotene Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) im Südosten geklagt. Einen Tag zuvor wurden drei türkische Wissenschaftler wegen des Vorwurfs der „terroristischen Propaganda“ verhaftet. Sie hatten im Jänner mit rund 1.200 anderen Akademikern einen offenen Brief unterzeichnet, in dem sie die Regierung zu einer Beendigung des Militäreinsatzes in den Kurdengebieten aufforderte.
Während die Europäische Union mit Ankara in Brüssel über das geplante Abkommen zur Flüchtlingsrücknahme verhandelt, haben die Menschen in der Türkei Angst. Dabei muss man nicht einmal in den kurdisch dominierten Gebieten der Türkei leben oder Regierungskritiker sein, um um sein Leben zu fürchten. Denn die Türkei droht gerade im Chaos zu versinken.
Die Stimmung im Land ist höchst angespannt, und die Regierung macht wenig, um die Bürger zu beruhigen. Am Montagabend kündigte Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan in einer vom Fernsehen übertragenen Rede an, künftig jeden als Terroristen zu behandeln, der „den Terror unterstützt“. Eine Maßnahme, die vor allem regierungskritische Abgeordnete, Wissenschafter und Journalisten treffen dürfte.
Nur einen Tag zuvor waren Zivilisten in Ankara bei einem Anschlag ermordet worden - schon wieder: Denn alleine die Hauptstadt wurde innerhalb von fünf Monaten von drei Terroranschlägen heimgesucht. Zuletzt am Sonntag, als eine Attentäterin 37 Menschen mit in den Tod riss. Zu den beiden letzten Anschlägen bekannten sich die Freiheitsfalken Kurdistans (TAK), eine Splittergruppe der verbotenen PKK.
Am Dienstag veröffentlichte die britische Tageszeitung „The Times“ ein Interview mit dem PKK-Anführer Cemil Bayik, in dem er weitere Unruhen ankündigte: „Unser Volk will Rache, es will, dass die Guerilla Vergeltung für sie übt“, so Bayik, der Staatspräsident Erdogan zu Fall bringen will. Man müsse sich „wohl eine gewisse Zeit an Terroranschläge gewöhnen“, schrieb der regierungsnahe Journalist Abdülkadir Selvi.
Tatsächlich zweifelt niemand daran, dass es weitere Attentate geben wird. Vor allem in Großstädten wie Istanbul macht sich die Angst bemerkbar. Am Montag wurde wegen einer Bombenwarnung in der Metropole für einige Zeit eine der Bosporus-Brücken gesperrt. In der Istanbuler Metro werden Rucksäcke nach Sprengstoff durchsucht, in Bussen kontrollieren Polizisten die Ausweise der Passanten. In dicht besiedelten Vierteln wie etwa Beyoglu auf der europäischen Seite ist die gestiegene Zahl der ohnehin schon immer präsenten Polizei nicht zu übersehen. In Ankara und Istanbul wurden mehrere kulturelle Großveranstaltungen abgesagt. Etwa ein Konzert der weltberühmten türkischen Pianistin Idil Biret, die eigentlich am Montag in der Hauptstadt auftreten sollte.
Zahlreiche ausländische Botschaften haben Warnungen an ihre Staatsbürger herausgegeben. Nach einem Warnhinweis am Donnerstag waren die deutsche Botschaft in Ankara und das Konsulat in Istanbul sowie die deutschen Schulen geschlossen worden. Die Einrichtungen bleiben auch am Freitag geschlossen. Der Gouverneur von Istanbul warnte in einer am Donnerstag veröffentlichten Mitteilung davor, sich von Gerüchten rund um die Sicherheit zu sehr beirren zu lassen. Doch was die Stadt zum Schutz der Bürger macht, ließ er in dem Schreiben offen.
„Landesweit ist mit einer Zunahme der politischen Spannungen zu rechnen“, warnt das österreichische Konsulat in Ankara. „Es wird daher nochmals dringend darauf hingewiesen, dass sich Reisende von Demonstrationen, Wahlkampfveranstaltungen und größeren Menschenansammlungen, insbesondere in größeren Städten, fernhalten sollten“, heißt es auf der Homepage der diplomatischen Vertretung. Und weiter: „Aufgrund der aktuellen Lage besteht eine erhöhte Anschlagsgefahr. Vorrangige Anschlagsziele sind Orte mit Symbolcharakter, wie z.B. Regierungs- und Verwaltungsgebäude, Verkehrsinfrastruktur (insbesondere Flugzeuge, Bahnen, Schiffe), Wirtschafts- und Tourismuszentren, Hotels, Märkte, religiöse Versammlungsstätten sowie größere Menschenansammlungen.“
Dies gilt vor allem für das Wochenende: Denn trotz Verboten finden landesweit Feierlichkeiten zum kurdischen Neujahrsfest statt. „Wir werden mit Widerstand gewinnen“ lautet das Motto der prokurdischen Oppositionspartei HDP.