Tschechow zum Nachdenken: Unkonventioneller „Iwanow“ im Volkstheater
Wien (APA) - Was wird hier gespielt? Dass lässt sich bei der neuen Produktion des Wiener Volkstheaters nicht auf Anhieb beantworten. Eine br...
Wien (APA) - Was wird hier gespielt? Dass lässt sich bei der neuen Produktion des Wiener Volkstheaters nicht auf Anhieb beantworten. Eine breite, abgewohnte, loftartige Behausung; darin verlorene, verbitterte Gestalten, die bessere Tage gesehen haben. Nach Tschechow sieht dieser „Iwanow“ nicht aus, stattdessen gibt er uns Rätsel auf. Beides lässt sich mehr für statt gegen diese Inszenierung ins Treffen führen.
Der Ungar Victor Bodo zählt zu jenen Regisseuren, die Anna Badoras Direktion am Grazer Schauspielhaus geprägt haben und die nun mit ihrer Handschrift auch dem Volkstheater einen künstlerischen Höhenflug ermöglichen sollen. Tatsächlich hat man so etwas wie diesen Abend am Weghuberpark in den vergangenen Jahren nur selten gesehen: Formwillen plus Kompromisslosigkeit, Anspruch plus Können. Dennoch sind diese über drei Stunden, die am Ende ausgiebig bejubelt wurden, keine Aufführung, die es einem leicht macht, sie zu lieben. Sie liefert keine Gebrauchsanleitung mit und zwingt einen, sich selbst einen Reim auf sie machen.
Die braven Verwalter und verhinderten Revolutionäre, die vertrocknenden Provinzschönheiten und steinalten Babuschkas, die Anton Tschechow in seinen Stücken variationsreich festgehalten hat, umgibt meist eine süße Wolke der Melancholie, eine Art Dornröschenschlaf, aus dem man sich nicht selbst wachküssen kann. Auch diesmal ruft man auf der Bühne immer wieder: „Gott, diese wahnsinnige Langeweile!“ Gleichzeitig wird aber hektisch durch den Raum geeilt, einander nachgestellt oder sich davongeschlichen. Es herrscht erstaunlich viel Bewegung. Die Starrheit ist eine Sturheit, und die ist im Kopf angesiedelt.
Bodos Personal ist nicht melancholisch, sondern mürrisch. Es ist nicht die Provinz, die den Menschen zu schaffen macht, sondern die Tatsache, dass sich die Welt nicht so verhält, wie sie es gerne hätten. Und dass ein Restfünkchen Widerborstigkeit in ihnen schlummert, sich damit endgültig abzufinden. Dieser Funke verursacht einen Schwelbrand, der noch zu löschen wäre, der aber auch ein flammendes Inferno auslösen könnte. Es kommt nicht von ungefähr, dass es in dieser Inszenierung immer wieder kracht, blitzt und leuchtet, dass das sprichwörtliche Gewehr (das laut Tschechow auch eingesetzt werden muss, ist es einmal eingeführt) schon nach zwei Minuten auftaucht, dass mit Pistolen und Motorsägen hantiert und Kleinholz gemacht wird - ob Birken umgeschnitten, Bodenbretter rausgerissen, Türen ausgehängt werden oder Sitzbänke zusammenbrechen.
Jan Thümer wirkt als Iwanow, unrasiert und in Unterwäsche zwischen Schreibmaschine und Konzeptpapier irrlichternd, wie ein verkaterter Arbeiterdichter, dem mit dem Arbeiter- und Bauernstaat auch seine Orientierung abhandengekommen ist. Der Subkontinent Bodo (für den Lorinc Boros eine hübsch verkommene, detailreiche Bühnenlandschaft geschaffen hat) ist nahe der Urkontinente Marthaler und Hermanis angesiedelt, mehr von Ostalgie als vom russischen 19. Jahrhundert geprägt und bietet wie diese musikalische Orientierungen ebenso wie kleine szenische Sehenswürdigkeiten. Die gemeinsame Jagd nach einer summenden Fliege, der Missbrauch eines Wäschetrockners als Cocktailmixer zählen etwa zu Miniaturen, die dem Abend zusätzliche Leuchtkraft verleihen.
Doch nicht Inszenierungseffekte und Bühnenartistik (ja, es wird auch viel gefallen, gestolpert und gestürzt), sondern die Menschen stehen im Mittelpunkt - doch die tun einander leider nur selten Gutes. Iwanow stellt fest, dass die Liebe zu seiner Frau Anna Petrowna (Stefanie Reinsperger als vom Tod gezeichnetes Gespenst mit verzweifelten Bemühungen, Leben und Gatten festzuhalten) erkaltet ist und die schlechte ärztliche Prognose über ihren Gesundheitszustand ihn nur noch schneller in die Arme der jungen Nachbarstochter Sascha (Nadine Quittner als steifer Angelina-Jolie-Verschnitt) treibt. Deren Vater Pawel (Günter Franzmeier) wäre zwar herzensgut, steht aber unter der Fuchtel seiner geldgierigen Frau (Steffi Krautz holt mit minimalem Aufwand ein Maximum aus ihrer Figur).
Auch die übrigen Paarbildungen sind schon im Ansatz dem Untergang geweiht: Der alte Graf (Stefan Suschke) und die junge, reiche Witwe (Claudia Sabitzer) werden beinahe vom aufgedrehten Gutsverwalter Mischa (Thomas Frank als ständig zur Unzeit explodierendes Knallbonbon) verkuppelt, zwischen dem verklemmten Arzt Jewgenij (Gabor Biedermann zeigt einen sehenswerten Kampf und Krampf der Gefühle) und der todkranken Anna Petrowna entspinnt sich eine zarte, hoffnungslose Liebesgeschichte.
All das fügt sich nicht zu einem glatten, fugenlosen Gesamtbild zusammen, doch sind es gerade die rauen Verwerfungen, die Fugen und Unebenheiten, die diese erste Wiener Inszenierung Victor Bodos interessant machen. Am Ende wird die ganze Bühne nach hinten geschoben. Vorne bleibt Iwanow alleine und singt zögernd ein paar traurige Zeilen - auf ungarisch. Ein kleiner Schlussgag mit großer Symbolkraft: Man mag vielleicht nicht alles verstanden haben - aber ein Abend, der den Geheimnissen von Theater und Leben noch ein paar weitere hinzufügt, sollte als Gewinn verbucht werden.
(S E R V I C E - „Iwanow“ von Anton Tschechow, Deutsch von Andrea Clemen, Regie: Victor Bodo, Bühne: Lorinc Boros, Kostüme: Fruzsina Nagy, Musik: Klaus von Heydenaber. Mit Gabor Biedermann, Thomas Frank, Günter Franzmeier, Steffi Krautz, Nadine Quittner, Stefanie Reinsperger, Claudia Sabitzer, Martina Spitzer, Stefan Suske, Jan Thümer, Luka Vlatkovic und Günther Wiederschwinger. Volkstheater Wien. Nächste Aufführungen: 22., 27., 30. März sowie am 6. April, Karten: 01/ 52111-400, www.volkstheater.at)