„Agrippina“: House of Cards a la Romana im Theater an der Wien
Wien (APA) - Der Kampf um Macht und Sex im Kapitol, das klingt nach der Erfolgsserie „House of Cards“ - oder nach Georg Friedrich Händels rö...
Wien (APA) - Der Kampf um Macht und Sex im Kapitol, das klingt nach der Erfolgsserie „House of Cards“ - oder nach Georg Friedrich Händels römische Intrigenoper „Agrippina“. Letztere hat am Freitagabend Robert Carsen im Theater an der Wien (TAW) zu einem umjubelten barocken Prachtstück aus Opulenz und großem Spaß umgearbeitet. Musikalische Frische gepaart mit Schauspieltheater auf hohem Niveau.
Carsen hatte zuletzt vor zwei Jahren mit seiner Interpretation von Rameaus „Platee“ am Haus einen Sensationserfolg gelandet, an den er nun nahtlos anschließt. Zugleich stellt Händels 1709 uraufgeführtes Bravourstück um die intrigante Kaisergattin Agrippina, die nach dem Tod von Claudius ihren Sohn Nero auf den Kaiserthron heben möchte, das chronologische Prequel zu Monteverdis „L‘Incoronazione di Poppea“ dar, mit der das TAW im Oktober begeisterte. Alles also recht schlüssig.
Dem 61-jährigen Carsen gelingt mit „Agrippina“ dabei erneut der Balanceakt zwischen dem breiten Pinselstrich und der fein ziselierten Figurenzeichnung. Seine Arbeiten sind groß in den kleinen Gesten der Charaktere, die bei den teils langen Arien nie sich selbst überlassen werden. Personenführung in Reinkultur. Zugleich gelingt dem Kanadier immer wieder, puren Quatsch und charmanten Klamauk einzubauen, ohne dabei je ins Billige abzugleiten oder den Esprit des Gesamtzusammenhalts zu verlieren.
Diesesmal setzt Carsen demonstrativ auf den sexuellen Unterton des Stückes, mit dem der junge Händel einst seinen Durchbruch in Italien feierte. Der Schauwert dieser Inszenierung ist mithin enorm: Hausdebütant Damien Pass als Agrippina-Liebhaber Pallante darf schon in seiner ersten Arie blank ziehen, was im Laufe des Abends für beinahe jeden männlichen Akteur auf der Bühne gelten wird. Die direkten und indirekten Anspielungen auf den Sexualakt reichen hierbei von der Erektion mit Fahne bis zur ironisch-billigen Pornoästhetik der 80er-Jahre. Wenn der Römer zweimal klingelt...
Derb wird das Geschehen jedoch nie, das von Carsen und seinem Stammausstatter Gideon Davey in Mussolinis markanten Palazzo della civilta italiana in Rom verpflanzt wird. Dessen faschistischer Minimalismus dient mal als Kapitol, mal als Schwimmbad oder als Boudoir und erweist sich als überraschend flexible Figurenrahmung. Zu verdanken ist der Charme des Abends aber vor allem dem geschlossen souverän auftretenden Ensemble.
Countertenor Jake Arditti gibt als Mitglied des „Jungen Ensembles“ mit Hausrecht Nero als verwöhntes Muttersöhnchen und etablierte sich mit Spielwitz und Sixpack zu einem der Stars des Abends. Die Irin Patricia Bardon interpretiert ihre Nemesis Agrippina rustikal-zupackend voller intriganter Freundlichkeit, während die charmante Danielle de Niese, nun schon einige Jahre am Haus vermisst, vor allem ihr schauspielerisches Talent ausleben darf und selbst die Koloraturläufe ihrer Poppea psychologisch fundiert unterfüttert.
Der mächtige finnische Bass Mika Kares - noch aus der Da-Ponte-Trilogie am TAW unter dem verstorbenen Nikolaus Harnoncourt in bester Erinnerung - darf mit seinen 37 Jahren als übergewichtiger Kaiser Claudio mal in Berlusconi-Maske, mal als Duce auftreten und hebt sich dank seines Organs doch über die Buffofigur hinaus. Filippo Mineccia als Kriegsherr Ottone hingegen besitzt zwar eine berückend schöne Mittellage, die allerdings mit schwacher Tiefe und Höhe gepaart ist. Dies ist allerdings ein Detail, überzeugt doch vor allem die Homogenität der Ensembleleistungen. Dass sich unter den Akteuren kein vollkommen herausstechender Artist barocker Stimmakrobatik findet, stärkt dabei nur den Eindruck von stringenter Geschlossenheit.
Entsprechend groß fiel am Ende der Jubel aus, was auch für einen weiteren Hausdebütanten, Dirigent Thomas Hengelbrock, galt, der mit seinem Balthasar Neumann Ensemble erstmals im TAW gastierte. Vor allem die Streicher des Orchesters präsentierten sich geradezu neckisch in der Interpretation der Händel-Partitur, wohingegen die Holzbläser den einen oder anderen Aussetzer zu verzeichnen hatten. Allgemein jazzt es aber im Graben zur variantenreichen Vorlage, die sich von Tanzsätzen über ausgiebige Rezitative bis hin zu langen Da-Capo-Arien erstreckt. Wenn Ränkespiele auf der politischen Tagesbühne nur immer so farbenfroh untermalt würden...
(S E R V I C E - „Agrippina“ von Georg Friedrich Händel im Theater an der Wien, Linke Wienzeile 6, 1060 Wien. Musikalische Leitung des Balthasar Neumann Ensembles: Thomas Hengelbrock, Regie: Robert Carsen, Ausstattung: Gideon Davey. Mit Patricia Bardon - Agrippina, Jake Arditti - Nerone, Danielle de Niese - Poppea, Filippo Mineccia - Ottone, Mika Kares - Claudio, Damien Pass - Pallante, Tom Verney - Narciso, Christoph Seidl - Lesbo. Weitere Aufführungen am 20., 22., 29. und 31. März sowie am 2. April. Karten 01/58885. http://go.apa.at/M5YHiebP. Übertragung der Aufführung aus dem Theater an der Wien am 29. März ab 20.30 Uhr durch www.mezzo.tv in HD-Auflösung. www.sonostream.tv und http://culturebox.francetvinfo.fr bieten ein Livestreaming der Produktion.)