Auschwitz

Ein Tag im Leben Saul Ausländers

Der ungarische Dichter Géza Röhrig spielt den KZ-Gefangenen Saul Ausländer.
© Thimfilm

László Nemes erzählt in „Sauls Sohn“ von den Verbrechen in Auschwitz und von einem Mann, der im Chaos des Grauens die Würde sucht.

Von Peter Angerer

Innsbruck –In Steven Spielbergs „Schindlers Liste“ war 1994 zu sehen, wie ein Transportzug mit bereits gerettet geglaubten Juden nach Auschwitz umgeleitet wird, wie sich die Menschen nach ihrer Ankunft ausziehen und nackt das Schlimmste erwarten. Sie entdecken Duschköpfe, aus denen nach bangen Sekunden des Wartens tatsächlich Wasser rinnt. So nahe war zuvor noch nie ein Hollywoodfilm dem Tabubruch, dem Bilderverbot zur Shoah gekommen. Tatsächlich war diese Wendung vom tödlichen Gas zum reinigenden Wasser auch ein Spiel mit der Erwartungshaltung des Publikums, denn die Filme im Kopf liefen in unterschiedlichen Versionen längst durch den Projektor der Fantasie.

In László Nemes’ Film „Sauls Sohn“, der mit der Empfehlung als Oscar- und Golden-Globe-Gewinner inklusive Grand Prix der Jury von Cannes diese Woche in die Kinos kommt, sind Gaskammer und Krematorium in Auschwitz der Arbeitsplatz von Saul Ausländer (Géza Röhrig). Es dauert etwas, bis sich die Handkamera von Mátyás Erdély für Sauls Gesicht als Protagonisten entscheidet, denn im schmalen Schärfebereich des Objektivs bleibt der Hintergrund stets verschwommen und alles Grauen wird nur noch über Sauls gehetzten Blick wahrnehmbar. Als Mitglied des Sonderkommandos werden Saul einige Monate seines Lebens geschenkt, doch der Preis, den ein privilegierter KZ-Gefangener für diese Gnadenfrist zu entrichten hat, geht über jedes Vorstellungsvermögen hinaus.

Im Oktober 1944 kursieren in Auschwitz die ersten Gerüchte über die anrückende Sowjetarmee und tatsächlich sind es bis zur Befreiung am 27. Jänner 1945 nur noch wenige Monate. Die einfahrenden Züge mit Tausenden Juden bestimmen das Vernichtungstempo. Die Juden müssen sich in der Kleiderkammer ausziehen, ein SS-Mann sagt „beeilt euch, sonst wird die Suppe kalt“ und „merkt euch die Nummern der Kleiderhaken!“. Das klingt für die nackten Menschen, die den höhnisch mitschwingenden Ton nicht wahrnehmen, nach einem Versprechen für die Zukunft. Kaum ist die Stahltür geschlossen, beginnt Saul, die Kleider von den Haken zu reißen und nach Wertsachen zu durchsuchen, während in der Gaskammer gegen die Tür geschlagen wird, Schmerzensschreie aus berstenden Lungen zu hören sind. Anschließend sind nach der Entlüftungsphase die Leichen ins Krematorium zu bringen und der Raum von Blut, Kot und Erbrochenem zu reinigen. Die Asche muss in den Fluss geschaufelt werden.

Dieses Mal ist etwas anders: Zwischen den Leichen röchelt ein Jugendlicher, den Saul als seinen Sohn zu erkennen glaubt, den ein SS-Arzt mit bloßer Hand erstickt und eine Autopsie anordnet, um der selten beobachteten Widerstandskraft im Dienst der Wissenschaft auf die Spur zu kommen. Dieses Vorhaben verschafft Saul eine Atempause. Ohne seine Aufgaben zu vernachlässigen, begibt er sich auf die Suche nach einem Rabbi, der für seinen Sohn an einem richtigen Grab das Totengebet sprechen soll. Als zusätzliche Erschwernis schwebt die Drohung über den Ereignissen, dass der Kapo Saul auf die Liste jener 70 entbehrlichen Gefangenen gesetzt haben könnte, die am folgenden Tag ihre Kleider an diese Haken vor der Gaskammer hängen werden – mit der Gewissheit, sich die Nummern nicht einprägen zu müssen.

Mit dieser Vorgabe wechselt der Film in das Genre des Thrillers, denn Nemes verknüpft den letzten Tag im Leben des Saul Ausländer mit dem Aufstand der Sonderkommandos. Sauls Odyssee durch die Finsternis und das Chaos dieses Tages ist der Spannung, weniger der Erkenntnis geschuldet. In einer ebenso grandiosen wie stillen Sequenz kommentiert Nemes die Einwände und Zweifel an dieser Art des Umgangs mit der Shoah. Als Gefangene in einem Versteck verborgen für die Nachwelt ein Massaker der SS zu fotografieren versuchen, verhüllt mystischer Nebel das Grauen.