Bühne

Gladiator und Terrortechnokratin

© TLT/Larl

„Big Macs“ todbringender Tanz: Dale Wassermans „Einer flog über das Kuckucksnest“ überzeugt im Großen Haus des Tiroler Landestheaters als präzise choreografiertes Ensemblestück.

Von Joachim Leitner

Innsbruck –Im Grunde genommen ist Dale Wassermans auf Ken Keseys gleichnamigem Roman basierendes Stück „Einer flog über das Kuckucksnest“ eine experimentelle Versuchsanordnung. Was passiert mit einem geschlossenen System, wenn man einen widerständischen Fremdkörper einführt? Bröckelt eine bis dahin festgezurrte Ordnung oder bricht das System den Eindringling – bringt ihn gewissermaßen auf Linie?

In einer Zeit, in der die Angst vor allem Fremden zur zahlungskräftigsten Währung des politischen Diskurses geworden ist, muss die tagesaktuelle Dringlichkeit dieses immerhin über 50 Jahre alten Stoffes – Keseys Roman erschien 1962, das Stück wurde ein Jahr später uraufgeführt – nicht unterstrichen werden. Insofern lässt sich „Einer flog übers Kuckucksnest“, das in einer Inszenierung von Alexander Schilling am Samstagabend im Großen Haus des Tiroler Landestheaters Premiere hatte, als großformatiges Gegenstück zu „Wir sind keine Barbaren“ lesen, das derzeit in den Kammerspielen läuft. Hier wie dort geht es um einen Eindringling und den (mörderischen) Prozess, der von ihm in Gang gesetzt wird.

Und im Falle des „Kuckucksnestes“ – eigentlich müsste das angesichts der epochalen Verfilmung des Romans, die fünf Oscars gewann und Jack Nicholson endgültig zum Weltstar machte, gar nicht näher ausgeführt werden – ist dieser Fremdkörper McMurphy. Ein protziger Kleinkrimineller, der sich vor dem Arbeitslager in die Irrenanstalt flüchtet – und dort mit seiner ungestüm einnehmenden Art ordentlich Unordnung stiftet. Gerhard Kasal spielt ihn mit kaum zu bremsender Energie als „Big Mac“: (vor-)laut, tänzelnd, niemals frei von derbem Witz – und doch in seinen Absichten kaum einschätzbar.

Ob es allerdings tatsächlich den von krachenden Gitarren begleiteten Gladiatoreneinzug gebraucht hätte, den Regisseur Schilling für seinen Protagonisten bereithält, ist fraglich. Der Bruch des – zunächst um greifbaren Realismus bemühten – Tons wirkt deplaziert. Ein um Spektakularität bemühtes Mätzchen.

Kasal freilich federt es mit ironischer Luftgitarren-Pose ab. Ähnlich eigentümlich, aber das nur am Rande, nimmt sich später auch ein etwas unmotiviert eingeflochtenes Zitat aus Quentin Tarantinos „Pulp Fiction“ aus: Zum „Misirlou“-Thema brüllen zwei Anstalts-Insassen den „MacDonalds“-Dialog quer über die von Julia Schmolz entworfene Bühne. Aber gut, das Filmzitat endet immerhin mit einem schwelgerischen „Le Big Mac“. Womit wir wieder bei McMurphy wären.

Und weil davor von Gladiatoren die Rede war: McMurphys große Gegenspielerin Schwester Ratched nimmt den Neuankömmling mit angebrachter Kühle in Empfang. Ulrike Lasta besticht durch betont kleine Gesten: eine Technokratin des Terrors. Fürs Grobe ist sowieso eher Pfleger Warren zuständig, Philipp Rudig spielt ihn als gewaltbereiten Choleriker – und lässt Ratched, die sein Wüten distanziert überwacht, durch diese Ausbrüche ungleich bedrohlicher wirken.

Überhaupt besticht „Einer flog übers Kuckucksnest“ als präzise choreografiertes Ensemblestück. Jeder Nebenrolle – Michael Arnold als weit weniger pflichtbewusster Pfleger Turkle, Jan-Hinnerk Arnke als um Ausgleich bemühter Anstaltsleiter und Antje Weiser, die die zweite Schwester als einigermaßen durchgeknallte Paranoikerin anlegt, Sara Nunius und Tamara Burghart als „leichte Mädchen“ – wird der Raum gegeben, ihre Figur trotz weniger Zeilen anschaulich auszugestalten. Ganz organisch bilden sie ein Bild irgendwo zwischen Alltagstrott und durchorganisiertem Chaos.

Nominelle Nebenfiguren, aber letztlich Charakterstudien von Format, sind die „Irren“: Andreas Wobig (Dale Harding), Stefan Riedl (Scanlon), Kristoffer Nowak (Cheswick) und Hans Danner (Martini) taumeln zwischen Begeisterung über McMurphys Revoluzzer-Pathos und der Angst vor den Folgen. Wobei ihre Ticks nie zur Karikatur verkommen. Bestechend: Jan Schreiber als Chief Bromden – der als Erzähler dieser, „auch wenn sie nie passiert ist, wahren Geschichte“ immer wieder aus der Handlung heraustritt. Ihm und dem jungen Insassen Billy Bibbit, der – eindringlich verkörpert von Christoph Schlag – zusehends ins emotionale Zentrum des Stückes rückt, wird ein Hauch von Hintergrundgeschichte erlaubt. Im unglaublich dicht inszenierten Finale – ein in mehrfacher Hinsicht todbringender Tanz zu zermürbend vorwärtsdrängendem Noise – spielen sie und die durchwegs effektiv eingesetzte Drehbühne tragende Parts.

Fazit: Sieht man von einigen nicht unbedingt schlüssigen Regieentscheidungen ab, lohnt der vom Premierenpublikum mit langem Beifallssturm belohnte Flug übers Kuckucksnest.