Die Utopie vom grenzenlosen Lawinenairbag-Schutz
Dass der Airbag kein Allheilmittel ist, hat der Winter gezeigt. Ausrüster arbeiten an neuen Modellen, die Schutzfunktion ist jedoch begrenzt.
Von I. Rapp und M. Christler
Innsbruck, Zürich –Der Tod der 21-jährigen Snowboard-Weltmeisterin Estelle Balet vor zwei Wochen hat die Freeride-Szene geschockt. Die junge Schweizerin wurde bei Film-Dreharbeiten im Wallis von einer Lawine erfasst und 1000 Meter mitgerissen. Sie trug einen Lawinenrucksack.
Nicht erst seit dem Unglück der jungen Freeride-Weltmeisterin, deren Vater beteuert, sie sei immer mit Vorsicht in den Bergen unterwegs gewesen, wird über die Wirksamkeit des Lawinenrucksacks diskutiert. Wie gut schützt der aufblasbare Ballon bei einem Lawinenabgang? Liegt mit Airbag die Chance, in einer Lawine zu überleben, bei 97 Prozent, wie ein Hersteller einst geworben hat?
Eine unabhängige Studie (siehe Box) hat ergeben, dass bei 100 Personen, die von einer potenziell tödlichen Lawine erfasst werden, ohne Airbag 22 sterben würden. Mit Lawinenrucksack reduziert sich das Sterberisiko auf 13 Personen. Das deckt sich in etwa mit den Eindrücken aus dem vergangenen Winter in Tirol.
In Tirol starben im vergangenen Winter acht Menschen unter Lawinen (Zeitraum 1. November 2015 bis 3. Mai 2016). „Bei fünf der getöteten Tourengeher war der Airbag geöffnet, Leben retten konnte er aber nicht“, weiß Norbert Zobl, Leiter der Alpinpolizei in Tirol (genauere Fakten zu den anderen drei Toten waren ihm nicht bekannt).
So sei etwa bei dem Unglück im Februar in der Wattener Lizum mit insgesamt fünf Toten der Airbag möglicherweise bei einem ersten Abgang hilfreich gewesen. Durch Nachlawinen sei es aber nicht mehr zum „Müsli-Effekt“ gekommen – wonach größere Bestandteile (sprich der Wintersportler mit Airbag) in einem sich bewegenden Medium aufsteigen, kleinere jedoch absinken.
In einem weiteren Fall war ein Tourengeher in Hochfügen allein unterwegs. „Sein Airbag war gelöst, er konnte sich ohne fremde Hilfe aber nicht befreien. Das ist das Problem des Alleingehens“, bringt es Zobl auf den Punkt. „Dennoch ist das Risiko, trotz gezogenem Airbag in der Lawine zu sterben, nur halb so hoch wie ohne.“
Im Gebirge gibt es Situationen und Geländeformen, bei denen der Lawinenrucksack an seine Grenzen stößt. In die Studie des Schweizer Instituts für Schnee- und Lawinenforschung (SLF) sind die Arten der tödlichen Verletzungen zwar nicht miteingeflossen, doch die Experten gehen davon aus, dass in vielen Fällen mechanische Verletzungen zum Tode führten. Studien aus Nordamerika zeigen, dass 30 Prozent der Lawinenopfer an Traumata sterben: „Im Bereich der oberen Waldgrenze, wo viele mit Airbag unterwegs sind, ist das Gelände gefährlich. Bei einer Lawine über Felsen oder im Bereich von Bäumen hilft die Notfallausrüstung wenig“, sagt Benjamin Zweifel, der an der Studie beteiligt war. „Optimal“ sei ein glatter Hang ohne Hindernisse.
Dem stimmt Michael Vollmer zu. Er ist in die Produktentwicklung der Mammut-Lawinenrucksäcke involviert. Abgesehen von Felsen und Bäumen seien genauso Mulden ein Problem: „Der Airbag funktioniert nur, wenn man in Bewegung ist und die Geländeform gleichmäßig ausläuft. Bei einer Überschüttung in einer Mulde kann der Airbag nur bedingt helfen“, sagt er.
Um die Gefahr von mechanischen Verletzungen zu vermindern, bietet Mammut z. B. für den nächsten Winter Protection-Lawinenrucksäcke an. Der Ballon bläst sich nicht nur am Rücken, sondern auch – wie ein Seitenairbag beim Auto – bei den Schultergurten auf, um u. a. den Brustbereich besser zu schützen.
Der Schutz funktioniert bei jedem Airbag natürlich nur, wenn er ausgelöst wird. Im Auto passiert das automatisch. Am Berg muss die Person selbstständig den Auslösegriff ziehen. Die SLF-Studie ergab, dass jeder fünfte Airbag im Notfall nicht ausgelöst wird. In 60 Prozent der Fälle zieht der Benutzer den Griff nicht.
Die Mammut-Entwickler überlegten, ob ein intelligentes Selbstauslöse-System praxistauglich wäre, mussten die Idee aber verwerfen. Bei neueren Modellen wurden verstellbare Auslösegriffe verbaut, damit jeder Benutzer den Griff so einstellen kann, damit er ihn leicht erreicht.
Nicht zu vergessen: „Der Umgang mit dem Airbag muss geübt werden, am besten mit einer Testauslösung vor jeder oder jeder zweiten Saison“, empfiehlt SLF-Forscher Zweifel.
Seit vergangener Saison sind die ÖAMTC-Flugretter und -Notärzte mit Airbags ausgestattet, da sie bei Lawineneinsätzen sich selbst in Gefahr bringen. Thomas Schwaiger ist leitender Flugretter in Zell am See und beim ÖAMTC für die Weiterbildung tätig. „Dieser Handgriff beim Airbag ist wichtig und muss automatisiert sein, damit man im Ernstfall ohne Scheu und nachzudenken den Auslösegriff zieht.“ Schwaiger verwendet den Lawinenrucksack selbst. „Es ist ein Schritt zu mehr Sicherheit.“
Mehr aber nicht. Bei Mammut seien die Außendienstmitarbeiter laut Vollmer angewiesen, eines klar zu vermitteln: „Der Airbag ist keine Überlebensgarantie“, sagt er. Die Frage bleibt offen, ob das in der Kette von den Produzenten über die Geschäfte bzw. Online-Shops beim Kunden so ankommt bzw. ob der Kunde das wahrnehmen will.
„Fühlen sich die Benutzer des Airbags weniger verletzlich und gehen deshalb höhere Risiken ein?“, wird in der SLF-Studie gefragt. Klar beantwortet wird die Frage nicht. „Dafür haben wir zu wenig Daten“, sagt Zweifel. „Ich glaube schon, dass eine gewisse Risikokompensation stattfindet.“
Das bedeutet, der Träger eines Rucksacks ist sich bewusst, dass er eine höhere Überlebenschance hat, und riskiert deshalb mehr. Nach Unfällen wie jenen der Schweizer Freeride-Weltmeisterin wird viel diskutiert, ob man zu sehr an die Grenze geht. Wer die Bilder des Unglücksorts sieht, steil und felsig, muss leider feststellen, dass sie dort kaum ein Überlebenschance hatte. Mit oder ohne Airbag.
Studie zur Lawinenairbag-Wirksamkeit
Unterschiedliche Zahlen: In den Anfangsjahren von Lawinenauftriebsystemen wie dem Lawinenrucksack bzw. Lawinenairbag versicherten Hersteller den Trägern ihres Produkts eine hohe Überlebenswahrscheinlichkeit. Lawinenexperten bezweifelten die Zahlen.
Studie: Der kanadische Lawinenforscher Pascal Haegli veröffentlichte 2014 eine Studie, an der auch Benjamin Zweifel vom Schweizer Institut für Schnee- und Lawinenforschung mitgearbeitet hat. Sie analysieren darin 245 Unfälle mit 442 ernsthaft verschütteten Personen. 264 der Personen hatten einen aufgeblasenen Airbag, 61 einen Airbag, der nicht aufgeblasen war, und 117 waren ohne Airbag unter die Lawine geraten.
Ergebnis: Bei jenen Personen, die von einer potenziell tödlichen Lawine erfasst wurden, wurde das Sterberisiko mit aufgeblasenem Airbag von 22 % auf 11 % reduziert. Ein Airbag verhindert demnach ca. die Hälfte aller Todesopfer. Allerdings wurde bei jedem Fünften aller Airbag-Träger der Airbag nicht ausgelöst – bei 60 % davon lag es am Benutzer, bei 12 % wegen Wartungsfehlern, bei 17 % wegen Gerätefehlern, bei 12 % wegen der Zerstörung des Airbags während des Lawinenabgangs. Werden auch die nicht aufgeblasenen Airbags ins Ergebnis miteinberechnet, reduziert der Airbag das Sterberisiko von 22 Prozent auf 13 Prozent.
Fazit: Von 100 Personen in einer Lawine würden ohne Airbag 22 Personen sterben, mit Airbag 13 Personen.