„Science Talk“ - Europa braucht mehr Resilienz und neue Perspektive
Wien (APA) - Die Europäische Union und ihre Bürger müssen resilienter werden und sich nicht durch jeden Stolperstein in die Krise stürzen la...
Wien (APA) - Die Europäische Union und ihre Bürger müssen resilienter werden und sich nicht durch jeden Stolperstein in die Krise stürzen lassen, hieß es bei einer Podiumsdiskussion im Rahmen der Veranstaltungsreihe „Science Talk“ am Montagabend in Wien. Die Gemeinschaft brauche eine neue Vision und sei gefordert, große Themen wieder mit mehr Ernsthaftigkeit und Glaubwürdigkeit anzugehen.
Resilienz müsse aus dem Kern der Gesellschaft entwickelt werden, jeder einzelne könne dazu beitragen, gab sich Franz Fischler, Präsident des Europäischen Forums Alpbach und ehemaliger EU-Kommissar für Landwirtschaft, Entwicklung des ländlichen Raumes und Fischerei, bei der gut besuchten Veranstaltung über die Belastbarkeit (EU)-Europas und den Einfluss und Auswirkungen von Krisen überzeugt. „Sonst werden die Bürger für Populismus jeder Art immer noch anfälliger“, unterstrich er. Hätten Krisen bisher immer die europäische Integration vorangetrieben, so würden derzeit einzelne Mitgliedsstaaten eher den Weg zurück in die Nationalität einschlagen.
„Es gibt keine Garantie mehr, gestärkt aus der Krise hervorzugehen“, zeigte sich Fischler wenig optimistisch. „Europa erlebt eine echte Sinnkrise - braucht man die Union? Und wofür?“, fragte er und rief dazu auf, über ein neues Narrativ nachzudenken. Weiter auf dem Konzept der EU als Friedensprojekt aufzubauen, reiche nicht mehr, um die Jugend, die nie einen Krieg erlebt habe, zu begeistern. „Man sollte sich auch endlich zu einer gemeinsamen Verteidigungsstruktur durchringen - der Frieden bewahrt sich nicht von selber“, gab er zu bedenken.
Die EU gleiche einer Großbaustelle - und wo Gebäude nicht fertiggestellt seien, regne es bei Schlechtwetter sofort herein. „Auf Dauer ist das eine Zumutung für die Bevölkerung, sie wird nicht ewig mitspielen“, so seine Einschätzung.
Heinz Faßmann, Vizerektor für Forschung und Internationales an der Universität Wien und Obmann der Kommission für Migrations- und Integrationsforschung der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW), plädierte für einen „perspektivischen Inkrementalismus“, also eine pragmatische Politik der kleinen Schritte in Richtung eines großen Ziels. Er bezeichnete das Erasmus-Austauschprogramm als „tolle Perspektive“ und plädierte analog dazu für ein gemeinsames europäisches Asylsystem mit einheitlichen Standards etwa bei der Anerkennung von Fluchtgründen.
Er prangerte die „Ideenlosigkeit“ der EU-Kommissare an und verwies auf die „vollkommen praxisfremde“ angedachte Strafe der EU-Behörde von 250.000 Euro für jeden nicht genommenen Flüchtling. Pessimistisch beurteilte er die EU-weite Migrationsdebatte und wie man aus der Situation des „Abduckens“ der Mehrheit der Staaten wieder herauskommen könne. Bei der angekündigten „Fluchtursachenbekämpfung“, um den Menschen Alternativen zum Aufbruch nach Europa zu bieten, vermisste er Taten.
„Europa ist so unterschiedlich, was Kultur, Sprache, Sozial- und Steuersysteme oder Armutsquoten anbelangt. Eigentlich überraschend, dass es bis jetzt so gut geklappt hat“, meinte Gudrun Biffl, Leiterin Department Migration und Globalisierung an der Donau-Universität Krems, und strich die Vorbildwirkung der europäischen Union besonders für den asiatischen Raum, aber auch Südamerika hervor. Europa müsse friedensstiftend nach innen, aber auch nach außen wirken, meinte sie. Ob das Asylinstrument in der derzeitigen Flüchtlingskrise das richtige Werkzeug sei, stellte sie zur Debatte und verwies auf die rund 150.000 Menschen, die im Lauf von zwei Jahren im Zuge des Zerfalls Jugoslawiens nach Österreich gekommen und als „‘De-facto‘-Flüchtlinge, nicht als Asylwerber“, behandelt wurden. „Wer sagt, dass die jetzigen Flüchtlinge für immer bleiben?“, gab sie zu bedenken.
Der Politikwissenschafter Paul Luif von der Universität Wien hinterfragte die zentralistischen Strukturen der EU. „Alle immer über einen Kamm zu scheren, funktioniert in der Praxis nicht“, Föderalismus sei in manchen Fragen vielleicht zielführender. In Angelegenheiten, die anderswo zentralistisch geregelt würden - Stichwort gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik - agiere die Gemeinschaft wiederum dezentral, stellte auch Fischler fest.
Herausgefordert sah Luif die Union durch die Folgen des arabischen Frühlings, die Ukraine-Russland-Krise und die Beziehung zur Türkei. Auch wenn die Flüchtlingskrise ohne die Türkei nicht lösbar sei, verwies Fischler auf deren problematischen Umgang mit Menschenrechten und Demokratie und warnte auch in Richtung Russlandpolitik vor falschen Zugeständnissen. „Die Türkei ist ein gutes Beispiel dafür, wieder mehr Ehrlichkeit in die Politik zu bringen“, spielte er auf die von der EU gewährte Beitrittsperspektive an.