Erdogan an der Macht – in der Türkei wird es Nacht
Demokratie war von Anfang an nur Mittel zu seinen Zwecken.
Von Heinz Gstrein
Innsbruck — Der türkische Staatschef Recep Tayyip Erdogan hat es in der Wahrnehmung von EU-Europa geschafft, den russischen Amtskollegen Wladimir Putin als Bösewicht vom Dienst auszustechen. Mit seiner Arroganz und fast krankhaften Empfindlichkeit gegen jede auch nur humorvolle Kritik inspiriert er Komiker, Lästerzungen und Liedermacher zu immer neuen Auslassungen, bereitet bis in höchste politische Etagen zunehmend Kopfschmerzen, wo nicht Ratlosigkeit. Hätte der Despot von Ankara in den letzten Tagen und Wochen gegen alle Regeln der Demokratie „nur" seine totale interne Machtergreifung zelebriert, hätte das außer Menschenrechtlern und Solidaritätlern mit den türkischen Linken, Kurden sowie letzten Christen und Juden am Bosporus kaum jemanden aufgeschreckt. Erdogans gleichzeitige Drohgebärden, den Flüchtlingsdeal mit der EU platzen und weitere drei Millionen in seinen Lagern bereitgehaltene Heimatlose auf die Wohlstandsfestung Europa loszulassen, macht ihn aber zum zurzeit gefährlichsten potenziellen Totengräber aller „abendländischen" Errungenschaften.
Dabei wurde der Wunderknabe einer politischen und wirtschaftlichen Stabilisierung der Türkei in den ersten zehn Jahren seiner Regierung bis Mitte 2013 allgemein als Staatsmann von europäischem Format gespriesen. Dann schlug aber alles ins Gegenteil um. Selten hat sich das Gesicht eines sympathisch-offenen Landesvaters so rasch und gründlich zu einer abstoßenden Diktatorenfratze verzerrt wie bei Erdogan.
Leute, die ihn zu kennen glauben, sind allerdings der Meinung, dass jetzt einfach wieder der alte, ursprüngliche Erdogan zum Vorschein kommt. Der als Oberbürgermeister von Istanbul zwischen 1994 und 1998 an dessen Stränden abgesonderte Badezonen für Frauen sowie nach Geschlechtern getrennte Schulbusse eingeführt hat und der die EU als „Christenverein" beschimpfte, in dem „wir Türken nichts verloren haben"
„Minarette als Bajonette"
1998 hatte Erdogan sein jetziges Ziel und Vorgehen bei einer Wahlveranstaltung unverblümt angekündigt: „Die Demokratie ist nur der Zug, auf den wir aufsteigen, bis wir am Ziel sind. Die Moscheen sind unsere Kasernen, die Minarette unsere Bajonette, die Kuppeln unsere Helme und die Gläubigen unsere Soldaten."
Das war für die damals noch vom Reformer Atatürk laizistisch geprägte Türkei zu viel Zynismus und Fanatismus. Erdogan wanderte ins Gefängnis und erhielt für mehrere Jahre Politikverbot. Was ihn nicht daran hinderte, die neue islamlastige „Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung" (AKP) zu gründen und mit dieser 2002 einen überwältigenden Wahlsieg einzuheimsen.
Den hatte Erdogan in erster Linie dem Bündnis mit der einflussreichen Muslim-Erneuerungsbewegung „Hizmet" (Dienst) von Fethullah Gülen zu verdanken. Dieser so genannte „Hoca Effendi" setzte den verspäteten Versuch einer islamischen Aufklärung durch den Kurdenmystiker Said Nursi (1876—1960) ins Organisatorische um. Gezielt brachte er das private Schul- und Bankwesen sowie die Medienszene weitgehend unter seine Kontrolle, seine Anhängerschaft als Staatsbeamte unter, auch bei der Polizei bis in den Geheimdienst MIT hinein. Da Gülen wie sein Lehrer Nursi in allen Religionen göttliches Licht erblickte, wandte er sich Christen, Juden und anderen freundschaftlich zu.
Für Tirol ist nicht uninteressant, dass die Gülenisten auf Basis der Islam und Christentum gemeinsamen Verehrung von höheren Geistwesen in den 1990er-Jahren auch Kontakt zum Engelwerk gesucht und gefunden hatten. Allerdings nicht zum kirchenkonformen Petersberg bei Silz, sondern zu dessen wegen Zweifeln an päpstlicher Unfehlbarkeit nach Bruck an der Glocknerstraße verbanntem Altabt Hansjörg Bitterlich. Die — im März 2016 von Erdogan unterdrückte — Tageszeitung Zaman (Die Zeit) berichtete 1997 in mehreren Folgen vom „konstruktiven" Besuch einer Gülen-Delegation im Hauptquartier der unbeugsamen Engelwerker. Bald darauf wurde der „Hoca Effendi" von Papst Johannes Paul II. empfangen ...
Parallel zu Erdogans Ausrichtung nach dem vorweggenommenen „Euroislam" von Fethullah Gülen verlief seine nostalgische Rückwendung zu Glanz und Größe der osmanischen Türkei, bevor ihr der Europäisierer Atatürk Feminismus und Lateinschrift, aber ebenso einen fast rassistischen Nationalismus und sonstigen faschistischen Ballast beschert hatte. Im Universitätsprofessor Ahmet Davutoglu fand Ergogan einen Chefideologen für solchen Neo-Osmanismus, der auch im Ausland gut ankam.
Der kleine Mann aus Konya avancierte daher 2009 zum Außenminister und wurde Erdogans Aushängeschild nach allen Richtungen. Auf dem Höhepunkt seines Einflusses hatte es Davutoglu 2012 geschafft, der Türkei bei EU und USA, in Putins Machtsphäre, der islamischen Welt und im Fernen Osten Ansehen und Achtung zu verschaffen. Sein Anfang Mai — vom mittlerweile zum Staatspräsidenten avancierten Erdogan — erzwungener Rücktritt als Regierungschef war dann nur der Schlusspunkt unter seinen langen Abstieg. Davutoglu ist so tief gefallen, dass er sich in seiner Demissionserklärung gegen den Vorwurf von „Unehrerbietigkeit gegen Erdogan und dessen Familie" absichern musste, um nicht zu allem anderen noch als Präsidentenbeleidiger belangt zu werden.
Wie erst jetzt rückblickend klarer erkennbar, lag schon seit Jahren immer noch der alte Undemokrat und Islamist Erdogan auf der Lauer. Ihn sollte jener Mann Schritt für Schritt aus der Versenkung locken, der den mäßigenden Einfluss von Fethullah Gülen verdrängte und den jetzigen Umbruch in der Türkei maßgeblich mitbestimmt: der heutige Präsidentenberater Ibrahim Kalin.
Erdogans immer wilderes Umsichschlagen hat in Ankara inzwischen sogar zu einer parlamentarischen Anfrage nach seinem Geisteszustand geführt, aber auch nach dem seiner bekopftuchten Gattin Emine. Während die türkische First Lady den Harem lobt, tobt ihr Mann gegen die Kurden, den Rest von Pressefreiheit am Bosporus, die — auf sein Betreiben ohnehin schon bei einem Drittel der Abgeordneten aufgehobene — parlamentarische Immunität, die Befassung des deutschen Bundestags mit dem türkischen Genozid an den Armeniern oder die Taktik der USA in Syrien. Tatsächlich weiß der immer unumschränktere Machthaber aber ganz genau, was er damit will: die eigene Installierung als eine Art neuer Sultan, die Re-Islamisierung der Türkei und ihre Führungsrolle über alle Muslime.
Erdogans Einflüsterer
Sein Souffleur dabei tritt nach jahrelangem Wirken hinter den Kulissen jetzt als offizieller Sprecher des Staatschefs hervor: der Panislamist Ibrahim Kalin, kein unbeschriebenes Blatt unter den Vordenkern einer Muslim-Weltherrschaft. Er ist von Haus aus Theologe und hat sich auf schiitische Religionsphilosophie spezialisiert. Damit trat er aus dem Rahmen der von Erdogan zunächst angestrebten Wiederbelebung des Osmanentums in die Richtung einer allislamischen Mobilisierung.
In Erdogans erster Regierungsphase von 2003 bis 2009 schien sich Kalin — wie ein Davutoglu — die ausgesprochen frauen- und christenfreundlichen Reformsultane zwischen 1830 und 1876 zum Vorbild zu nehmen und wurde daher im In- und Ausland durchaus positiv eingeschätzt. Dann trat er jedoch in die Spuren des „roten" Sultans Abdülhamid II. (1876—1909), der die Wiederverschleierung ermutigte, die Kirchen unterdrückte und mit dem Ausrotten der armenischen Christen begann.
Heute wissen wir, dass die Verfinsterung des anfangs „sonnigen" Erdogan weitgehend das Werk seines Einbläsers Kalin war. Er machte ihn Anfang 2009 in aller Stille zu seinem außenpolitischen Berater Nr. 1. Erste Auswirkungen waren gleich am 29. Jänner 2009 der antiisraelische Eklat des damaligen türkischen Ministerpräsidenten beim Forum von Davos und die folgende Umwerbung der Palästinenser, besonders der Hamas-Islamisten von Gasa. Dann gab Kalin 2011 Erdogan den Rat, beim „Arabischen Frühling" auf die Karte der Muslim-Brüder zu setzen und mit ihrer Hilfe ganz Nahost wieder wie bis zum Ersten Weltkrieg unter türkischen Einfluss zu bringen. Eine Rechnung, die in Ägypten bloß kurzzeitig und in Syrien nur beinahe aufging.
Sein wahres Gesicht begann Erdogan innenpolitisch vor genau drei Jahren wieder im Istanbuler Gezi-Park zu zeigen, als er den Protest gegen seine geplante Verbauung der Grünfläche durch eine Replik osmanischer Kasernen von Wasserwerfern wegspülen und im Tränengas ersticken ließ — mehrere Tote blieben auf der Strecke. Was aber den Diktator auch heute nicht entmutigt, weiter die Türkei und ihre Diaspora in Europa am „islamischen Wesen genesen zu lassen".
Zur Person
Der Journalist und Buchautor Heinz Gstrein stammt aus Tirol. Er berichtet seit vielen Jahren vom Balkan und aus dem Nahen Osten. gstreinheinz@gmail.com