Erfolg mit Skandal:“Publikumsbeschimpfung“ vor 50 Jahren uraufgeführt
Frankfurt am Main (APA/dpa) - Der Abend war ein Skandal und ein Triumph - und endete für den Dichter und sein Team im Gefängnis. Vor 50 Jahr...
Frankfurt am Main (APA/dpa) - Der Abend war ein Skandal und ein Triumph - und endete für den Dichter und sein Team im Gefängnis. Vor 50 Jahren, am 8. Juni 1966, wurde in den Räumen des Frankfurter „Theaters am Turm“, kurz TAT, die „Publikumsbeschimpfung“ von Peter Handke uraufgeführt. Im Henschel Verlag ist nun ein Bildband erschienen, in dem Zeitzeugen auf die bewegte Geschichte des 2004 geschlossenen Hauses zurückblicken.
„Was das TAT für die Entwicklung der Möglichkeitsräume des Theaters getan hat, ist nicht hoch genug einzuschätzen“, schreibt etwa der Komponist Heiner Goebbels im Vorwort. Die Impulse, die von den beiden Spielstätten - zuerst am Eschenheimer Turm, dann an der Bockenheimer Warte - ausgingen, sind heute unbestritten. Zu den prägenden Figuren zählte unter anderem Rainer Werner Fassbinder.
„Die Geburtsstunde des neuen TAT“, schreibt der Verleger Karlheinz Braun, war „der überwältigende Erfolg der Publikumsbeschimpfung“. Als Theater-Verleger bei Suhrkamp hatte Braun das Stück als Erster in den Händen. Er schickte es an einige Intendanten, was, wie er sich heute erinnert, „überaus heftige Reaktionen hervorrief: „Sind Sie denn völlig verrückt geworden?““ Nur Claus Peymann und Wolfgang Wiens wollten das Stück auf die Bühne bringen.
„Die Schauspieler quälten sich nicht wenig mit dem ungewohnten Sprechtext ohne Unterfütterung durch eine Figur“, erinnert sich Braun an die Proben. Die Lösung, wie man das Stück denn inszenieren könnte, lieferte die Musik: Die vier Sprecher gestalteten den weitgehend handlungslosen Text „im Rhytmus Beat“: „eine Boygroup, die den Vorgaben ihres Grazer (sic) Songwriters folgte“.
Die Reaktionen des beschimpften Publikums waren erwartungsgemäß kontrovers. Lachen, Zwischenrufe, einer wollte mitspielen und enterte die Bühne, am Ende Pfiffe und Jubel. Der Dichter setzte sich an die Rampe, dirigierte den Applaus und sandte Kusshände ins Publikum.
Nach der Uraufführung feierte die Truppe in einer Spelunke im Rotlichtviertel, legte sich mit der Bedienung an und flog hochkant raus. O-Ton Braun: „Auf der Straße riefen die jetzt empörten Publikumsbeschimpfer nach ihrem Recht und der Polizei, die auch mit zwei Streifenwagen erschien, sich aber zur Verblüffung der Theaterleute auf die Seite der Rotlichter zu stellen schien, worauf Handke und die Theatergruppe anfingen, ‚Nazipolizei‘ zu skandieren, was diese dann zum Anlass nahm, sie in den Einsatzwagen und dann in die Zellen des 4. Polizeireviers zu verfrachten.“
Spätestens jetzt hatten auch die Boulevard-Medien das heute legendäre Theaterereignis mitbekommen und titelten „Publikumsbeschimpfer verhaftet“. Die Feuilletons sahen in dem Stück „das größte Theaterereignis des Jahres“ oder nannten es „eine echte Sensation“.
Nach diesem Paukenschlag war das TAT eine Marke, Peymann gefragter Regisseur und Handke „der erste Popstar unter Deutschlands Dichtern“, wie es in dem über 200 Seiten starken Bildband über das TAT heißt. Ende der 1960er Jahre etablierte es sich als überregional beachtetes, „zeitkritisches, politisch mutiges und innovatives Theater“ wie Hans-Thies Lehmann und Patrick Primavesi in ihrem Essay schreiben.
In den 70ern war das TAT geprägt vom ermüdenden Ringen um die Mitbestimmung am Theater, die auch deswegen scheiterte, weil der Egomane Fassbinder vielleicht nicht wirklich der richtige Mann für basisdemokratische Entscheidungsprozesse war. Aber spätestens in den 80ern - unter Christoph Vitali und Tom Stromberg - war das TAT „Schauplatz und Wegbereiter avantgardistischer Theaterformen“.
Dann begann das langsame Sterben: Es gab kein festes Ensemble mehr, nur noch Gastspiele und Koproduktionen. Das TAT wurde, so Lehmann und Primavesi, „eine Art ständiges institutionalisiertes Festival“. In den 90ern wurde es als vierte Sparte in die Städtischen Bühnen eingegliedert. Der Schwerpunkt verschob sich Richtung Musik und Tanz. Letzter Intendant war der Choreograph William Forsythe.
Nach einem ersten kurzen Schließungsversuch in den 70ern wurde die Ära TAT 2004 endgültig beendet: für Lehmann und Primavesi „ein spezielles Lehrstück in kultur- und stadtpolitischer Inkompetenz“.
(S E R V I C E - Sabine Bayerl, Karlheinz Braun, Ulrike Schiedermair (Hg): „Das TAT. Das legendäre Frankfurter Theaterlabor. Henschel Verlag, 208 Seiten, 30,80 Euro)