Falluja vor dem Fall - IS im Irak und auch Syrien stark unter Druck

Bagdad (APA/dpa) - In den schlimmsten Zeiten der Krise rücken die Iraker zusammen, zumindest an diesem Abend in der Bagdader Kirche der Heil...

Bagdad (APA/dpa) - In den schlimmsten Zeiten der Krise rücken die Iraker zusammen, zumindest an diesem Abend in der Bagdader Kirche der Heiligen Jungfrau Maria. Die katholische Gemeinde hat zu einem überkonfessionellen Gebet für den Frieden geladen, und der Saal ist bis auf den letzten Platz gefüllt. Christen beten an der Seite muslimischer Geistlicher und anderer Würdenträger für ein Ende der Gewalt.

„Oh, Herr, lass‘ Frieden über uns kommen“, singen die Gläubigen und der Chor, der sich im Altarraum unter einer goldenen Maria aufgereiht hat. „Oh, Herr, schenke unserem Irak Frieden.“

Von Frieden ist das Bürgerkriegsland zwei Jahre nach dem Vormarsch der Terrormiliz „Islamischer Staat“ (IS) noch immer weit entfernt - Hoffnung auf einen Sieg gegen die Extremisten macht den Irakern aber eine Militärkampagne nur rund 70 Kilometer westlich der Hauptstadt. Während die Gläubigen in Bagdad für bessere Zeiten beten, tobt die Schlacht um die IS-Hochburg Falluja.

Die Stadt fiel im Frühjahr 2014 als einer der ersten irakischen Orte in die Hände der sunnitischen Extremisten. Falluja war ein leichtes Ziel, denn bei den sunnitischen Einwohnern stößt der IS bis heute auf Sympathien, weil sich viele Sunniten, die unter Diktator Saddam Hussein privilegiert waren, nun von der Mehrheit der Schiiten diskriminiert fühlen.

Jetzt haben sich die IS-Kämpfer in dem Ort verschanzt und leisten „starke Gegenwehr“, wie der Brigadegeneral Roger Noble sagt, einer der Befehlshaber der US-geführten internationalen Koalition, die die irakische Armee in ihrem Kampf unterstützt. Die Extremisten setzen dabei ihre üblichen Mittel ein: Selbstmordattentäter, Sprengfallen und Zivilisten als Schutzschilder. Unter der Stadt haben sie Tunnel gegraben, durch die sie sich geschützt hin und her bewegen können.

Trotzdem haben die irakischen Kräfte seit Beginn der Operation Ende Mai den Ring um Falluja immer enger gezogen. Mittlerweile sind sie in Vororte der Stadt eingedrungen. Der australische Brigadegeneral Noble rechnet zwar nicht mit einem Sieg innerhalb von Tagen, ist sich aber sicher: „Sie werden Falluja zu gegebener Zeit einnehmen.“

Für Daesh, wie die arabische Abkürzung für den IS lautet, wäre die Befreiung der Stadt ein neuer Rückschlag, der den Druck auf die Terrorgruppe weiter erhöhen wird. Im Irak liegen die letzten Siege der Extremisten lange zurück. Falluja ist strategisch wichtig, weil die Stadt an zentralen Verbindungsstraßen liegt, etwa nach Syrien. Sie sei für den IS wie ein „Lunge“, sagt der irakische Militärexperte Abdelkarim Khalaf. „Wenn die Lunge abgeschnitten wird, dann stirbt Daesh.“ Fällt Falluja, bleibt dem IS als letzte Hochburg im Irak nur noch die nordirakische Millionenstadt Mossul.

Zeitgleich verliert die Terrormiliz auch im Nachbarland Syrien an Boden. Eine Allianz unter Kommando kurdischer Einheiten rückt auf Raqqa vor, inoffizielle Hauptstadt des IS in Syrien. General Noble schätzt, dass die Extremisten mittlerweile bis zu 45 Prozent des einst von ihnen beherrschten Gebietes wieder verloren haben.

Der vergleichsweise schnelle Vormarsch auf Falluja ist auch das Ergebnis amerikanischen Trainings für irakische Regierungskräfte. Trotzdem reicht die Schlagkraft der Armee noch nicht aus, um Falluja allein einzunehmen. Maßgeblich beteiligt an der Offensive sind schiitische Milizen, bewaffnete Gruppen, die zwar offiziell unter Armeekommando stehen, aber ihr Eigenleben führen. Al-Hashd al-Shaabi nennen sich die Truppen, Volksmobilisierungseinheiten. „Ohne sie wird es keine Befreiung Fallujas geben“, sagt Muin al-Kadhimi, führender Vertreter der schiitischen Badr-Miliz, selbstbewusst.

Für die US-Armee sind die Milizen ein schwieriger Partner, schließlich bekämpften diese die amerikanischen Truppen im Irak einst mit massiver Gewalt. Zudem gelten sie als williger Arm des schiitischen Iran, der die Einheiten mit Geld und Waffen beliefert und so seinen Einfluss im Irak sichert. Rund 100 Militärberater aus dem Iran seien in Falluja im Einsatz, sagt Milizenführer Kadhimi.

Nicht nur die Amerikaner sehen den Einsatz der schiitischen Einheiten mit Argwohn - viele Sunniten beobachten das Vorrücken der Milizen auf Falluja mit großer Sorge. Mit den Einheiten dringen schiitische Kräfte in sunnitisches Kernland vor. Zu hören sind Warnungen vor Vergeltungsmaßnahmen gegen Sunniten. Arabische Medien berichten von Übergriffen auf Sunniten nahe Falluja. Kadhimi versichert hingegen, die Führung der Milizen werde gegen jeden Verstoß vorgehen. Sie habe zudem dazu aufgerufen, Zivilisten zu schützen.

Sollte es zu Vergeltung in größerem Ausmaß kommen, wäre das für den Irak fatal. Der IS hat in dem Land auch deshalb so viel Zulauf bekommen, weil sich viele Sunniten längst von einem Staat abgewendet haben, den sie als Herrschaftsinstrument der Schiiten ansehen. Soll dem IS langfristig der Boden unter den Füßen entzogen werden, müsste es eigentlich eine Versöhnung zwischen den beiden großen Konfessionen geben - und nicht eine noch größere Dominanz schiitischer Kräfte.

Das wissen auch die Gläubigen in der Bagdader Kirche der Heiligen Jungfrau Maria. „Der Irak ist für alle da: Für Muslime, Christen, Yeziden und Sabäer“, versichert ein schiitischer Geistlicher, der für eine kurze Ansprache vor die Gemeinde getreten ist. Nach ihm sollte eigentlich noch ein sunnitischer Prediger sprechen. Doch er hat sich an diesem Abend wegen anderer „Verpflichtungen“ entschuldigen lassen.