Galizisches Märchen: „Der Papierjunge“ von Sofia Andruchowytsch

Wien (APA) - Sofia Andruchowytsch, 1982 geborene Tochter des bekannten ukrainischen Autors Jurij Andruchowytsch, wird den Juni als Artist in...

Wien (APA) - Sofia Andruchowytsch, 1982 geborene Tochter des bekannten ukrainischen Autors Jurij Andruchowytsch, wird den Juni als Artist in Residence des Unabhängigen Literaturhauses NÖ/Krems in Österreich verbringen. In diesem Rahmen wird sie mehrfach aus ihrem Roman „Der Papierjunge“ lesen, heute etwa in Spitz an der Donau, am kommenden Dienstag in der Österreichischen Gesellschaft für Literatur in Wien.

„Der Papierjunge“, 2014 in Lviv (Lemberg) unter dem Titel „Felix Austria“ erschienen und für den Residenz Verlag von Maria Weissenböck ins Deutsche übertragen, ist Sofia Andruchowytschs internationaler Durchbruch. Der Roman ist zeitlich und räumlich genau verortet. Er spielt kurz vor 1900 im galizischen Städtchen Stanislau, dem alten deutschen Namen des westukrainischen Iwano-Frankiwsk, der Heimatstadt der Autorin. Im Zentrum steht die Beziehung zweier junger Frauen, der schönen, doch kränklichen Arzttochter Adelja und der ihr eng verbundenen, energischen und arbeitsamen Stefa, der Ich-Erzählerin.

Die arme Nachbarstochter Stefa wird bei einem verheerenden Großbrand, bei dem auch Adeljas Mutter umkommt, Waise und wächst fortan im Arzthaushalt auf. Das enge, doch ungeklärte Verhältnis Stefas zu Adelja, „wie zwei Bäume, deren Stämme miteinander verwachsen sind“, ist Grund für ein lebenslanges Verhängnis. „Ich weiß nicht, wer du für mich bist: Schwester, Dienstmädchen, Mutter, Gouvernante?“

Diese klaren, klärenden Worte kann die launische Adelja erst ganz am Ende des Buches aussprechen und damit im neuerlichen reinigenden Feuer gleichsam einen Fluch von dem Haus nehmen, in dem sie zu dritt leben. Denn Stefa lebt an der Seite von Adelja und ihrem Mann, dem Steinmetz Petro - als unbezahlte Dienstmagd, deren Fleiß und Kochkunst weithin als unbezahlbar gerühmt werden.

Rund um das von Zuneigung und Eifersucht geprägte erzählerische Grundmotiv hat Sofia Andruchowytsch Nebenhandlungen und -figuren etabliert, die den Roman zu einem galizischen Märchen aus der Umbruchzeit zwischen Monarchie und Moderne weiten: Da gibt es den an einer Knochenerkrankung leidenden titelgebenden „Papierjungen“ Felix, den zwielichtigen, doch mit Grandezza auftretenden Magier Ernest Thorn, der die Dienste des schmalen, überaus gelenkigen Buben in mannigfaltiger Weise in Anspruch nehmen möchte, oder den stattlichen Priester Josyf, Zentrum aller Sehnsüchte der unverheirateten Stefa.

Weil Sofia Andruchowytsch eine echte Begabung dafür hat, malerische Genreszenen zu entwerfen, füllt sie ganze Seiten mit Schilderungen der kulinarischen Höchstleistungen Stefas, des Alltags in der galizischen Provinz am Rande der riesigen Habsburg-Monarchie, die von der Verehrung für den väterlichen Kaiser Franz Joseph zusammengehalten wird. Es sind plastische, starke Bilder, die immer wieder Gefahr laufen, überladen oder allzu pittoresk zu wirken und zusammen mit der sich dramatisch entladenden Spannung zwischen den beiden Frauen eine mitunter nicht unheikle Mischung ergeben.

Man kann sich der Bilder- und Emotionsflut von „Der Papierjunge“ aber auch ganz einfach hingeben. Ob daraus dann eine psychologisch unterfütterte Endzeit-Parabel oder ein großes Gefühlsbad mit Kitschtendenz entsteht, hängt auch vom Regisseur im eigenen Kopfkino ab. „Der Papierjunge“ hat das Zeug zu beidem - Arthouse-Hit oder Blockbuster. Ein toller Filmstoff ist der Roman in jedem Fall.

(S E R V I C E - Sofia Andruchowytsch: „Der Papierjunge“, Aus dem Ukrainischen übersetzt von Maria Weissenböck, Residenz Verlag, 308 S., 22,90 Euro, Lesungen: 3.6., Spitz an der Donau, 7.6., Österreichische Gesellschaft für Literatur, Wien, 15.6., Öffentliche Bibliothek Maria Enzersdorf, 23.6.2016 Stadtbibliothek Salzburg)