Atmosphäre vergiftet? Großbritannien gefangen in der Brexit-Debatte
London (APA/dpa) - Auch Tage nach dem brutalen Mord an der Labour-Politikerin Jo Cox dominiert das Thema noch die Schlagzeilen in Großbritan...
London (APA/dpa) - Auch Tage nach dem brutalen Mord an der Labour-Politikerin Jo Cox dominiert das Thema noch die Schlagzeilen in Großbritannien. Hat der erbittert geführte Wahlkampf um das EU-Referendum die politische Debattenkultur vergiftet? Tragen die Wortführer beider Seiten möglicherweise eine Mitschuld an der fruchtbaren Bluttat? - das sind die Fragen, die kurz vor dem Referendum das Land beschäftigen.
Als der britische Premierminister David Cameron am Sonntagabend einem Studiopublikum im Fernsehen Rede und Antwort steht, ruft er zu Toleranz auf. „Wir müssen den Hass aus unserer Gesellschaft vertreiben“, sagt er.
Doch hat sich die Debatte wirklich verändert? Nur kurze Zeit später wirft er den Brexit-Befürwortern vor, mit falschen Behauptungen zu arbeiten. „Die Leute bekommen Flyer der Leave-Kampagne auf denen steht, die Türkei würde der EU beitreten - falsch, die EU würde eine Armee gründen mit Großbritannien - falsch, und dass wir jede Woche 350 Millionen Pfund nach Brüssel überweisen - falsch“, sagt Cameron.
Nigel Farage, Chef der euroskeptischen Ukip-Partei auf der anderen Seite wirft Cameron vor, den Mord an der Politikerin für seine Zwecke auszuschlachten. „Was wir sehen, ist dass der Premierminister und die Remain-Kampagne versuchen, die Taten eines einzelnen Verrückten mit den Motiven der Hälfte der Briten zu verschmelzen“, sagte Farage dem Radiosender LBC.
Jüngste Umfragen hatten gezeigt, dass das Lager der Remain-Kampagne, wie die Brexit-Gegner genannt werden, wieder aufgeholt hat, nachdem sie in der Woche zuvor ins Hintertreffen geraten war. Ob das mit dem Mord an Jo Cox zusammenhängt, ist ungewiss. Experten des Meinungsforschungsinstituts YouGov machen eher Ängste vor den wirtschaftlichen Folgen eines Brexit verantwortlich.
Doch nicht nur der Ton unter den Politiker ist scharf. Ein Publikumsgast bei der TV-Fragestunde am Sonntagabend vergleicht Cameron allen Ernstes mit dem ehemaligen britischen Premier Neville Chamberlain, der es durch seine Appeasement-Politik versäumt hatte, den Expansionsgelüsten Hitlers Einhalt zu gebieten. Ähnlich würde es Cameron mit seinem EU-Deal gehen, der könnte ja auch einfach von einer europäischen Diktatur für nichtig erklärt werden, sagt der Publikumsgast.
Am Montagnachmittag kommen die Parlamentarier im Unterhaus zu einer außerordentlichen Sitzung zusammen, um der ermordeten Jo Cox zu gedenken. Bisher sind es in erster Linie solche Gesten, mit denen der britische Politikbetrieb versucht, die Atmosphäre zu verbessern. Ob das gelingen wird, ist zweifelhaft. Das Referendum wird, glaubt man den Umfragen, sehr knapp entschieden werden. Keine der beiden Seiten kann sich leisten, locker zu lassen. Und danach? - Es könnte gehen wie in Schottland. Dort wird seit der verlorenen Volksabstimmung über eine Unabhängigkeit vom Vereinigten Königreich vor allem über eines diskutiert: Eine weitere Abstimmung über die Unabhängigkeit.