Internet

Ein von Hass verzerrter Spiegel der Gesellschaft

(Symbolfoto)
© Andreas Rottensteiner

Der Tonfall im Netz wird immer rauer. Positive Kampagnen sind laut Experten eine „wichtige indirekte Reaktion auf Onlinehass“.

Innsbruck –Als „Freistaat und Zufluchtsort für merkwürdige Meinungen“ bezeichnete der niederländische Forscher Albert Benschop 2005 das Internet in seiner „Chronik eines angekündigten politischen Mordes“. Ein Bericht, in dem er den Neue-Medien-Aspekt im Fall Theo van Gogh herausgearbeitet hatte. Der niederländische Filmemacher war 2004 vom radikalen Salafisten Mohammed Bouyeri ermordet worden. Bouyeri und seine Freunde hatten das Internet im Vorfeld massiv als Plattform genutzt, Websites für Dschihad-Kämpfer erstellt, massiv Online-„Hate Speech“ geführt, Enthauptungsvideos ausgetauscht. Doch nicht nur „radikale Verlierer“ – wie sie Hans Magnus Enzensberger 2005 im Spiegel beschrieb – schätzten die libertäre Architektur des Internets. Auch van Gogh, der bei niederländischen Zeitungen wegen seiner extrem beleidigenden Texte nicht mehr als Kommentator gewünscht war, sah im Netz das einzige Medium, in dem er sich frei ausdrücken konnte. Die Polarisierung der Gesellschaft nach dem 11. September sei durch die offene Sphäre des Netzes verstärkt worden, schreibt Benschop. Viele Leute, die das Internet nutzten, hätten „zu einer Verhärtung der politischen Debatte und einer Verschärfung des Debattierstils“ beigetragen.

Elf Jahre ist es her, dass Benschop seine Arbeit vorgelegt hat, die Entwicklung, die er beschrieben hatte, kam damals für viele überraschend – heute sind Hassreden gang und gäbe, der Tonfall in den sozialen Medien ist rauer geworden. Christian Fuchs, Professor für Internetforschung und Direktor des Instituts für Höhere Studien an der Universität Westminster in London, sieht in den sozialen Medien einen Spiegel der Gesellschaft: „In Krisensituationen nimmt oft auch die verbale und physische Gewaltbereitschaft zu. Soziale Medien machen Drohungen einfacher, da sie eine physische, räumliche und oft zeitliche Distanzierung sozialer Beziehungen ermöglichen.“ Besonders auffallend sei der Anstieg der rechtsextremen Gewaltbereitschaft, die Onlinehasstiraden gelten längst nicht mehr Flüchtlingen allein. „Nach der zweiten Runde der österreichischen Bundespräsidentschaftswahlen gab es Gewaltaufrufe gegen Alexander Van der Bellen. Dem Mord an der britischen Parlamentarierin Jo Cox durch einen Neonazi ging eine Kultur anonymer Twitter-Drohungen gegen weibliche Abgeordnete voraus.“

Nicht nur Politikerinnen, auch Journalistinnen werden im Internet immer öfter persönlich angegriffen und mit sexueller Gewalt bedroht. Vier Journalistinnen, unter ihnen ORF-Moderatorin Ingrid Thurnher und Puls-4-Infochefin Corinna Milborn, hatten unlängst in der Wochenzeitschrift Falter über verstörende Postings mit sexualisierter sprachlicher Gewalt berichtet – ihre unmissverständliche Botschaft: „Uns reicht’s.“ Eine Botschaft, die auch bei der künftigen Frauenministerin Sabine Oberhauser angekommen ist, sie kann sich die Einrichtung einer Meldestelle gegen Frauenhass im Web vorstellen. Jugendministerin Sophie Karmasin warnte indes: Hassreden im Internet seien „kein Kavaliersdelikt“. Anfang der Woche hat sich in Österreich ein Nationales Komitee zur Umsetzung der „No Hate Speech“-Initiative des Europarates gegründet. Auf der „No Hate Speech“-Website können Hassreden registriert werden. Nach dem Attentat auf Jo Cox seien Kampagnen wie diese oder „Thank Your MP“ in Großbritannien „sinnvolle, wichtige indirekte Reaktionen auf Onlinehass”, sagt der Internet-Experte Fuchs. Doch „Mord- und Gewaltdrohungen sind primär eine Aufgabe der Polizei und sollten immer angezeigt werden“. Man dürfe aber auch nicht panisch werden und „überall im Netz reines Unheil“ erwarten. „Onlinehass, Onlinerassismus und Onlinebeschimpfungen sind irrational und man sollte darauf nicht direkt antworten. Drohungen sollten aber öffentlich gemacht und problematisiert werden“, so Fuchs. Das von Facebook propagierte Konzept der Counterspeech, also der Gegenrede, sehen viele Experten skeptisch. Positive Kampagnen könnten zwar den Hass nicht aus der Welt schaffen, laut Fuchs können sie „aber ein Puzzlestein einer größeren Aufklärungs- und Veränderungsbewegung sein, die die Gesellschaft sozialer und toleranter machen“. Das Wunschbild vom Internet als einer offenen und freien Sphäre wurde 2004 zu Grabe getragen. Für eine Internetkultur, die diesen Namen auch verdient, gilt es zu kämpfen. (sire)