EURO 2016

Der ÖFB-Therapeut für alle Fälle

ÖFB-Physiotherapeut Michael Vettorazzi zeigt, was in seinem Koffer steckt, wenn er bei der EURO auf das Feld läuft.
© Andreas Rottensteiner / TT

Ein Tiroler ist der Dienstälteste in Österreichs Fußball-Nationalteam: Physiotherapeut Michael Vettorazzi umsorgt die ÖFB-Kicker bei der EURO.

Von Sabine Hochschwarzer

Innsbruck – Michael Vettorazzi sitzt auf der ÖFB-Ersatzbank. Seit zehn Jahren und damit länger als jeder andere. Im Gegensatz zu den Teamspielern hockt er dort gerne lange. „Besser ist, wenn ich nicht auf das Feld muss“, gesteht der Physiotherapeut. Erst, wenn sich einer verletzt, kommt sein Einsatz. Dann muss der Innsbrucker mit zwei Taschen lossprinten wie ein Rettungswagen zum Unfallort.

Zwei, drei Kilo wiege seine Ausrüstung etwa, schätzt Vettorazzi. Geheimnis macht er keines daraus, was drinsteckt: in der rot-weißen Box Kühlendes wie Eiswürfel, Spray, Coolpacks und Wasser zum Säubern, in der anderen, seinem „Beauty Case“ sagt er, alles andere. Eine vom Apotheker gemischte Traumasalbe, Kompressen mit Cremen, Bandagen, Nasentampons, eine Klammermaschine für Platzwunden – die Liste ist lang und doch hat alles seinen Platz. „Ordnung muss sein. Es wäre ja peinlich, wenn ich was nicht gleich finden würde“, sagt der Tiroler lächelnd.

Wie einst unter Ernst Happel

Meist ahnt der 43-Jährige bereits an der Seitenlinie, was ihn am Feld erwartet. „Manche Verletzungen erkennt man schon durch Beobachten der Spielsituation.“ Ball und Spieler lässt Vettorazzi nicht aus den Augen. So wie früher, als er noch unter Ernst Happel beim FC Tirol selbst kickte, ehe Kreuzband- risse seine Profikarriere beendeten. Zwei Erfahrungen, von denen er heute zehre, sagt er: „Von beiden.“

Vieles ist bei „Vetto“ oder „Michi“, wie man ihn beim Team ruft, längst Routine, selbst jetzt bei der EURO, seiner zweiten EM: die täglichen Tapeverbände, das Aufstellen der drei Liegen drei Stunden vor Matchbeginn in der Kabine, das Vorbereiten aller Spieler zusammen mit drei Kollegen. Oder auch das Behandeln mit Arzt Richard Eggenhofer am Rasen. Einem Doppelpass ähnelnd, sodass der Physio gar nicht sagen kann, wer welche Handgriffe macht: „Ich glaube, meistens versorge ich, aber ich weiß es auch nicht so genau.“ Einzig Nadeln und Tacker schiebt er immer dem Arzt rüber. Wie vor einigen Jahren, als das Duo in vier Spielen hintereinander jeweils zwei Platzwunden versorgen musste und einen Nasenbeinbruch obendrauf: „Das war brutal.“ Sonst, erzählt Vettorazzi und klopft dabei symbolisch auf Holz, sei ihm Schlimmes wie Herzattacken oder verschluckte Zungen erspart geblieben.

Die Konstante im Trainerteam

An Teamchefs hat er hingegen bereits viel erlebt, seit November 2005 trägt der Tiroler nun den Trainingsanzug des A-Teams: Willibald Ruttensteiner, Andreas Herzog und Slavko Kovacic, Josef Hickersberger, Karel Brückner, Didi Constantini, dann noch mal Ruttensteiner und seit viereinhalb Jahren Marcel Koller.

Während andere gingen, durfte Vettorazzi bleiben. Vielleicht, weil man ihm vertraue; vielleicht, weil er selbst Fußball gespielt habe; vielleicht, weil er ein Teamplayer sei und es wohl auch menschlich passe: „Ich hoffe jedenfalls, dass es auch wegen meiner Qualität ist“, glaubt er und ergänzt augenzwinkernd: „Vielleicht wegen des Tiroler Dialekts.“

Gewitzelt wird auch auf seiner Behandlungsliege und über vieles gesprochen. „Manchmal ist ein Physiotherapeut auch ein bisschen ein Psychotherapeut“, weiß der Wahl-Hattinger. Die „Jungs“, wie er die Nationalteamkicker nennt, vertrauen ihm also nicht nur ihre Reserve-Kontaktlinsen während des Matchs an, er lernt sie als Familienvater, Bruder oder Sohn kennen: „Und das macht die Sache sehr sympathisch.“ Oft werde im Profigeschäft nämlich vergessen, dass Spieler Menschen seien. Ernst nimmt er deshalb auch Sorgen. Schmerzen ohnehin.

Meist taffe Typen

Wehleidige Sportler gibt es laut Vettorazzi im Fußball nicht mehr als in anderen Sportarten auch: „Jeder empfindet anders und geht anders damit um. Es sind taffe Typen dabei, aber auch weniger harte.“ Manchmal genügen Eisspray und Globuli, manchmal gilt es aber auch, die Spieler vor ihrem Ehrgeiz zu schützen: „Bei der EM will natürlich jeder weiterspielen. Ich kann es keinem verbieten, appelliere aber an die Vernunft.“

Am liebsten wäre ihm, wenn der Einsatz in Frankreich lange dauere. Selbst wenn man daheim schon auf ihn warte: die Patienten in der Völser Gemeinschaftspraxis, Freundin Christine und sein Liebling Aaron, ein Golden Retriever, den er vor vier Jahren aus dem Tierheim holte. Vettorazzi: „Er ist meine Therapie.“