Europa oder Jihad - Die Krise der tunesischen Jugend

Tunis (APA/dpa) - „Wenn ich in Tunesien einen Job finde, bleibe ich“, sagt Alaa Mohamed Abbes. Doch optimistisch ist der Architekturstudent ...

Tunis (APA/dpa) - „Wenn ich in Tunesien einen Job finde, bleibe ich“, sagt Alaa Mohamed Abbes. Doch optimistisch ist der Architekturstudent nicht. Sein Studium sei fünf Jahre lang, die Studiengebühren seiner privaten Ibn Khaldoun Universität in Tunis nicht gerade günstig. Doch ohne die richtigen Kontakte sei eine feste Einstellung nur schwer zu finden, erzählt der junge Tunesier frustriert.

Der 22-Jährige überlegt, nach seinem Studium nach Europa zu gehen - wie Tausende andere Tunesier auch: „Junge Leute suchen alle woanders nach ihrer Zukunft.“

Tunesien war eigentlich nach dem Arabischen Frühling ein Hoffnungsträger in der Region. Als einziges der arabischen Länder, die 2011 ihre Langzeitherrscher entmachteten, baut Tunesien stetig eine Demokratie auf. Doch seit der „Jasmin Revolution“ hat sich vor allem unter den jungen Menschen Unzufriedenheit ausgebreitet. Einer Studie zufolge sind nur 24 Prozent der 18- bis 24-jährigen Tunesier der Meinung, die Region habe von den Aufständen profitiert. Viele junge Leute schimpfen über den schleppenden politischen Fortschritt und inkompetente Politiker.

Zudem sucht seit dem Aufstand vermehrt der Terrorismus das kleine nordafrikanische Land heim. Drei Anschläge wurden seit März vergangenen Jahres in Tunesien verübt - der blutigste in Sousse am 26. Juni. Am Strand des Urlaubsparadies eröffnete ein Terrorist das Feuer und erschoss 38 Urlauber. Die Terroranschläge hatten verheerende folgen für das Land, das stark vom Tourismus abhängig ist - vor allem für die jungen Menschen. Bereits 2014 lag die Jugendarbeitslosigkeit in Tunesien der Weltbank zufolge bei 31,8 Prozent, Experten zufolge ist sie im vergangenen Jahr gestiegen.

„Wir haben lediglich ein schlechtes mit einem noch schlechteren System ersetzt“, sagt Abbes. Nun wird die junge Demokratie vom Exodus der Jugend geplagt. Wie der Architekturstudent erhoffen sich viele junge Tunesier im Ausland bessere Jobchancen. Andere wählen einen anderen, extremeren Weg: den Jihad. Der Soufan Group zufolge kämpfen rund 6.000 Tunesier in Syrien und im Irak, anderen Schätzungen zufolge sind es etwa 3.000. Wie viele davon sich der Terrormiliz IS angeschlossen haben, ist schwer zu erfassen. Aber fest steht: Das nordafrikanische Land mit nur rund 11 Millionen Einwohnern ist unter den ausländischen Kämpfern in Syrien und im Irak mit am stärksten vertreten.

Die arabische Jugend sieht einer Studie zufolge den Mangel an Jobs und Möglichkeiten in ihren Ländern als Hauptgrund, warum sich junge Menschen zum IS hingezogen fühlen. Michele Dunne, Nahost-Leiterin des Carnegie Endowment for International Peace, erklärt, es gehe dabei weniger um Arbeitslosigkeit an sich, sondern um ein Gefühl der Ungerechtigkeit, das daraus entsteht. „Wenn Menschen glauben, ihre Arbeitslosigkeit sei Folge sozialer, wirtschaftlicher oder politischer Ungerechtigkeit, dann können sie für eine Radikalisierung anfälliger werden.“

In Tunesien ist dies besonders ausgeprägt: Die Gefahr der Arbeitslosigkeit sei höher für Tunesier mit einem abgeschlossenen Studium als für diejenigen mit einem niedrigeren Bildungsniveau, schreibt Carnegie in einem Bericht. Das Gefühl der Ungerechtigkeit kann sich Dunne zufolge auch bei jungen Menschen breitmachen, die zwar einen Job haben, dieser aber weit unter ihrem Bildungsniveau liegt. Zudem spielt Korruption eine Rolle: „Egal, wie gut du bist - wenn du keine Kontakte hast, kriegst du nur schwer einen Job“, meint der Student Abbes. In Tunesien, wie in vielen anderen arabischen Ländern, brauche man „Wasta“ - Vitamin B.

Houssem Aboudi hat das Vertrauen in die politische Elite, diese Situation zu ändern, längst verloren. Also habe er sich gedacht: „Scheiß auf die Regierung! Ich mache es selber.“ Nach mehreren Jahren im Ausland beschloss der Tunesier, ein „Coworking Space“ - ein Gemeinschaftsbüro - in Tunis aufzubauen, um weiteren Unternehmern das Gründen zu erleichtern.

„Es ist wie eine Seifenblase: Alle lassen ihre Probleme draußen“, sagt der 32-Jährige. Ungestört können Jungunternehmer für einen Tages-, Monats- oder Jahresbetrag in der eleganten Villa in einem modernen Vorort arbeiten. Junge Tunesier sitzen an eleganten Holztischen und tippen energisch auf ihren Laptops. Einige arbeiten unter großen Sonnenschirmen im Garten neben einem Pool. Aoudi meint, in Tunesien hätten es Unternehmer nicht leicht - er wolle aber etwas ändern, statt sich über die Situation nur zu beschweren.

Diese Maxime befolgt auch Soraya Hosni. Zusammen mit ihrem Ehemann Mark Gonzales entwickelt die Französin mit tunesischen Wurzeln „The New Medina“ im Herzen von Sousse. Mit einem Gemeinschaftsbüro, Gründerzentrum und Galerie soll das Projekt Unternehmer und Künstler fördern, sagt die 36-Jährige.

Hosni ist zuversichtlich, dass bessere wirtschaftliche Möglichkeiten den „Braindrain“ - die Emigration gebildeter, talentierter Menschen - aus Tunesien aufhalten können. „Etliche Tunesier verlassen ihr Land, aber viele wollen aus der Diaspora auch wieder zurückkehren.“ Vorausgesetzt, es gebe attraktive Arbeitgeber. Ob eine bessere wirtschaftliche Lage auch der Radikalisierung junger Tunesier entgegenwirken würde, bleibt offen.